„Ich freue mich für dich“, sage ich etwas unterkühlt. Marly lächelt. Sie weiß, dass das schon mehr ist, als sie von mir erwarten kann.
„Es ist nur so, dass ich Angst habe, dass wir uns dann noch weniger sehen werden. Seit die Sache mit Fabian läuft, hat sich einiges verändert. Ich weiß, dass das normal ist, und ich will auch, dass du glücklich bist, aber für mich ist das auch eine neue Situation, und so ganz einfach scheint das für mich nicht zu sein.“
Ich lasse mich mehr in das weiche Sofa fallen. Meine angespannten Schultern beruhigen sich wieder ein wenig. Leicht fällt mir das nicht, ehrlich zu sein. Ich bin stolz auf mich, dass ich es in dieser Situation geschafft habe. Die meisten Menschen sind nicht ehrlich, nicht zu sich, und auch nicht zu anderen. Und natürlich wäre es fatal, wären wir immer und zu jedem Menschen ehrlich, wirklich, das würde so viele Konflikte heraufbeschwören, als hätten wir nicht schon genug Ärger, ständig und immer um uns herum. Da ist die eine oder andere Notlüge eher wertvoll. Sie glättet die Wogen. White Lie, sagt der Engländer, die liebenswerte, unschuldige weiße Lüge.
Aber Marly, das ist ein anderes Kapitel. Es gibt zwei Menschen, die meine Ehrlichkeit verdient haben. Marly, meine langjährige beste Freundin, und ich, der Mensch, mit dem ich bis jetzt mein ganzes Leben verbracht habe, und mit dem ich viele weitere Jahre verbringen werde, vorausgesetzt ich sterbe nicht so bald.
Plötzlich merke ich, dass Marly mich anstarrt. Etwas verwirrt reißt meine Gedankenkette ab und ich versuche, die Aufmerksamkeit wieder in diesen Raum, in Marlys kleine Wohnung zu lenken. Noch ist es ihre Wohnung. Nicht mehr lange.
„Ich weiß, dass das nicht leicht für dich ist, Sasha“. Marly nimmt meine Hände in ihre, während sie im Schneidersitz eine flauschige Einheit mit dem alten Sofa bildet. „Ich glaube, das ist auch der Grund, weshalb ich hinausgezögert habe, es dir zu erzählen. Ich meine, das ist jetzt eine ganz andere Situation, das mit Fabian ist mir schon ernst. Auch wenn du ihn nicht magst. Aber er ist echt ein guter Kerl. Dabei gönne ich es dir so, dass du auch jemanden wie ihn findest.“
Ich lasse Marlys Hände los. Mein Puls kocht hoch, Wut breitet sich in mir aus. Sie versteht mich nicht. Sie will mich einfach nicht verstehen.
„Nein, Marly. So einfach ist das nicht. Ich habe jemanden, zwar keinen wie Fabian, aber ich komme nicht vor Einsamkeit um! Du hast mich völlig falsch verstanden, Marly!“ Ich schaue sie mit wutentbrannten Schlitzaugen an. Auch Marly ist von mir zurückgewichen, überrascht von meinem plötzlichen Wutanfall.
„Nein, ist es nicht? Wie oft hast du mir denn erzählt, dass du auch gerne mal wieder einen romantischen Videoabend hättest, mit einem Mann der bleibt, der nicht am nächsten Morgen wieder weg ist und dessen Namen du nach zwei Monaten vergessen hast? Fabian ist nicht gegangen. Er bleibt. Und ich weiß überhaupt nicht, warum du ihn immer so schlecht machst!“ Sie wird lauter, stufenweise, mit jedem Wort.
„Natürlich hätte ich das gerne, Marly! Klar! Aber du verstehst da was ganz Grundsätzliches nicht. Nämlich wie ich mir diese Beziehung vorstelle! Und darüber haben wir so oft geredet, so oft, Marly, daran müsstest du dich auch erinnern, wirklich, du warst doch immer ganz meiner Meinung, nie würdest du einen Mann an erste Stelle setzen, nie, du würdest immer deine Unabhängigkeit behalten, immer, und dein eigenes Leben an erster Stelle setzen, denn das mit dem „wir“ auf ganzer Linie, das geht nie gut, Marly. Und das weißt du auch. Auch nicht mit Fabian. Wenn man all seine Bedürfnisse hintenanstellt, dann ist das auf Dauer nicht gut für die Beziehung. Und vor allem nicht für einen selbst. Und erst recht nicht für die Freunde!“ Ich verleihe meinen Sätzen mit wild fuchtelnder Gestik mehr Bedeutung.
Auch Marlys Bewegungen werden heftiger. „Ich gebe mich nicht auf. Und das weißt du auch. Ich ziehe mit Fabian zusammen, weil ich ihn liebe. Und er mich auch. Und weil er bleibt. Und wir es ernst meinen. Du bist ja nur neidisch, Sasha. Nur neidisch, weil Kevin so ein untreues Arschloch ist!“
Ich bin sauer. So verdammt wütend. Was ist nur in sie gefahren?
„Du hast sie nicht mehr alle, Marly! Treue war nie ausgemacht zwischen Kevin und mir! Das muss ich mir nicht anhören von dir! Geh und fick deinen Fabian! Oder einfach dich selber!“
Marly ist ruckartig aufgestanden, ihr Körper angespannt bis in die Haarwurzeln, die Hände zu Fäusten geballt. „Ich glaube, es ist besser, wenn du jetzt gehst“, sagt sie mit monotoner, tiefer Stimme.
„Ja, da hast du endlich mal Recht!“
Ich reiße meinen Wintermantel von dem Garderobenhaken und renne mit energischen Schritten zur Tür. Ich knalle die Tür hinter ihr zu und nehme hastig zwei Stufen auf einmal, bis ich außer Atem draußen ankomme. Die kalte Luft sticht mir in die Lunge. Ich ziehe meinen Mantel enger um den Körper und setze mich in Bewegung. Die Tränen schießen mir in die Augen. Ich bin froh, dass es dunkel ist, so sieht niemand, dass ich heule.
3
„Uff, Marly, hast du deine Steinesammlung mitgenommen?!“, keuche ich mit einer riesigen Umzugskiste beladen in Richtung Marly.
„Welche Steine?“
„Das war ein Witz. Hast du komplett deinen Humor verloren, als du über diese Türschwelle getreten bist?“
Marly ist mehr auf das Abladen ihres eigenen Kartons konzentriert als auf meine schnippische Bemerkung. „Ach Sasha.“
„Wo willst du das hier denn hin haben?“
Sie setzt die Kiste ab und dreht sich langsam zu mir um. Ihre Haare wippen zur Musik ihrer Bewegung in Zeitlupe mit. „Warte…ah, ich glaube, die kommt in die Küche…ja, da steht auch Küche drauf.“ Sie tippt mit dem Zeigefinger auf die von mir weggewandte Seite des Kartons.
„Okidoki.“
Ich pruste etwas Luft aus meinen Lungen und setze mich wieder in Bewegung. Die Küche ist Treffpunkt sämtlicher Umzugshelfer, Marlys Mutter serviert Fischbrötchen und Kartoffelsalat und lockt mit der Aussicht auf eine wohlverdiente Pause die Meute an.
„Warte Sasha, ich nehm dir das ab.“ Fabian wartet nicht auf meine Antwort und stellt den schweren Karton mit überheblicher Leichtigkeit auf den Küchentresen. Wäre ich nicht so froh darüber, die Last aus meinen Händen zu wissen, würde ich jetzt protestieren.
„Super, das sind ja die Gläser. Ich hab die schon überall gesucht.“ Er hat den Karton aufgerissen und pult das erste Glas aus dem zerknüllten Zeitungspapier.
„Sag ich ja, Steine“, murmle ich und drehe mich um, um Marly mit den weiteren Kisten zur Hilfe zu eilen.
„Sasha warte, willst du auch ein Fischbrötchen?“, ruft mir Marlys Mutter hinterher. „Du brauchst eine Stärkung, ich seh dir das doch an Kind, du bist ja schon ganz rot im Gesicht.“
Die fürsorgliche Art von Marlys Mutter ist manchmal schwer zu ertragen, aber ich merke, dass ich tatsächlich eine kleine Stärkung und etwas Ruhe von Kartons und Kisten vertragen könnte. Ich lasse mich auf dem Barhocker nieder, den Fabian mit einem Grinsen im Gesicht für mich bereitgestellt hat und nehme mir eines der Brötchen.
„Bier oder Wasser zu deinem Fischbrötchen?“
„Bier.“
„Bitte die Dame.“ Fabian stellt eines der neu ausgeräumten Gläser neben das Pils.
„Mm, eine Köstlichkeit!“ Ich ziehe meine Mundwinkel zu einem breiten Grinsen zusammen. „Und das Fischbrötchen schmeckt erst!“
„Natürlich, wir haben es extra von Marlys liebstem Fischwagen geholt“, erklärt Marlys Mutter nicht ohne einen gewissen Stolz in der Stimme.
Ich nehme einen Bissen und drehe mich mitsamt dem beweglichen Barhocker zu Fabian. „Eine schöne Wohnung habt ihr gefunden. So groß. War bestimmt nicht einfach, diese Traumvilla mit Blick auf die Weser zu bekommen. Und zu bezahlen.“
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