Während diese nicht gerade dünne Frau am Nachmittag schon wieder mitgebrachte Hähnchen in sich hineinstopft und sich so das Atmen noch mehr erschwert, ist unser Neuzugang, eine schlanke Frau meines Alters, von ganz anderem Schlag. Sie hat gleich drei Krankheiten zusammen – Asthma, Diabetes und eine Neuralgie – legt aber mit ihren 48 Jahren einen Rock’n Roll aufs Linoleum, dass wir alle staunen. Diese Patientin sieht ihr Asthma unter psychischem Aspekt: „Und dann habe ich ihm in zwei Stunden alles ins Gesicht gesagt, die Pfanne genommen und den Eierkuchen gegen die Decke geschmissen.“ Finito, Schluss mit der Elendsehe. Nach diesem Befreiungsakt glaubt sie, dass ihre Zukunft ohne Asthma verlaufen wird. Sie empfiehlt mir noch ein riesiges Inhaliergerät, das sie immer mitschleppt. Es arbeite mit Überdruck, so dass die Bronchien in der Tiefe erreicht würden und man so den Schleim losbekomme.
Operation an den Nebenhöhlen
9. Juli 1987
Ich beneide diese muntere Patientin. Mein Zustand scheint dagegen erbarmungswürdig zu sein, denn wie ich erfahre, hat sich eine Patientin aus unserem Saal verlegen lassen: Sie könne meinen abstoßenden Anblick, mein Röcheln nicht länger ertragen! Trotz meiner schlechten Verfassung wird nun die Nasen-Fensterung anberaumt; jedoch bestehe ich darauf, dass die beiden Wangenseiten in zwei getrennten Operationen gemacht werden. Meine Angst, mit zwei zuwattierten Nasengängen zu ersticken, ist groß. Und zu Recht: Nach der zweiten Fensterung kommt wieder ein Anfall.
Ich werde aufrecht sitzend in Halbnarkose operiert, habe danach natürlich Schmerzen. Aber was sind diese Schmerzen im Vergleich zu jener Grenzsituation, in der man nicht richtig atmen kann und doch noch nicht tot ist?
Mein Mann, meine Eltern und meine Freunde besuchen mich. Ich bekomme viel Post mit eingeklebten Blumen und Sprüchen. Und immer wieder: „Verliere nicht den Mut“ ... „wünsche ich Dir viel Kraft ...“. Sogar mein Ex-Mann schreibt mir nach jahrelanger Sendepause. Er habe seinen hartnäckigen allergischen Schnupfen mit einer Desensibilisierung wegbekommen. Aus Halle kommt mein Cousin, Professor für Orthopädie, und bringt mir Informationen über neueste Asthma-Forschungen mit. Leider kann ich das Mediziner-Deutsch nicht verstehen. Seinen Eindruck von damals ruft mir ein Brief in Erinnerung: „Du, liebe Monika, hast mir mit Deiner Erkrankung unter den anderen Weibern in dem Durchgangsraum und mit dem Tropf am Arm recht leid getan. Ich habe Dich bewundert, wie Du mit dieser Scheiß-Situation zurechtkommst.“ Immerhin, nicht nur Mitleid, sondern auch Bewunderung. Wie stark war ich wirklich? Medizinisch gesehen hieß es jetzt: „Patientin in gutem Allgemeinzustand und schlankem Ernährungszustand.“ Endlich durfte ich den unbehaglichen Ort verlassen und auch den arrogant auf seinen Pantinen wippenden Arzt, dessen Namen ich vergessen habe. Ich ahnte nicht, dass ich das Krankenhaus noch zwei Mal wiedersehen würde.
Die Fensterung hatte nichts gebracht. Schon vor der Operation hatten mir die Ärzte gesagt: Nur in zehn Prozent der Fälle geht das Asthma nach einer Fensterung weg. Ich hatte nicht das Glück, zu diesen Prozent zu gehören.
Inzwischen ist meine Krankheit zum dominierenden Thema für meine Umgebung geworden. Ich trage mein Herz auch durchaus auf der Zunge und denke: Nur Sich umhören, Information und Recherche können mich weiterbringen. Einesteils befürchte ich zwar, den anderen auf die Nerven zu gehen, andernteils bemerke ich aber, dass meine aktive Suche auch meine Freunde zum Nachdenken anregt. Ich habe sehr klar signalisiert, dass ich auf Mitleid keinen Wert lege, für knallharte Informationen jedoch dankbar bin.
So finde ich immer diverse Ratschläge in Form von Zeitungsausschnitten vor. Da soll ich Zwiebelsaft oder Salbeitee trinken, täglich Vitamin B 6 nehmen, Nachtkerzenöl-Kapseln schlucken oder ein Magnet-Armband tragen. Wahrsagerin Gabriele Hoffmann, so lese ich, hat ihr Asthma in sechs Monaten mit Weißkohlblättern weggekriegt. Rührend finde ich das Bemühen einer Kollegin, die mir von ihrem bronchialkranken Pferd erzählt: „Verstehen Sie es bitte nicht falsch, es ist natürlich nur ein Pferd, aber eine Arznei für ein Tier könnte doch im Prinzip auch einem Menschen helfen ...“
Ich habe es nicht ausprobiert, mache mir aber Gedanken über Tiere. Können Tiere Asthma haben? „Ja, natürlich“, antwortet mir ein Arzt, „Tiere haben schließlich auch eine Seele.“ Und in der Narkose, wenn weder Gedanken noch Gefühle eine Rolle spielen? „Auch in der Narkose kann man einen Anfall haben“, informiert mich mein Arzt-Schwager. Ja, was denn nun – ist es „seelisch bedingt“ oder „körperlich bedingt“? Dass man mit diesem Entweder-Oder in die Irre geht, muss ich erst noch lernen.
Ich habe ein endogenes Infekt-Asthma, so viel ist klar. Nun soll noch geklärt werden, inwieweit ich auch allergisch reagiere. Deshalb werde ich zu wochenlangen Tests erneut in das Krankenhaus eingewiesen. In einer „Such-Diät“ setzt man mich nur auf Kartoffeln und Reis, so dass ich noch dünner werde; ich atme provozierende Stoffe ein und man testet – parallel mit einem anderen Patienten – auf der Haut. Dabei zeigen sich bei dem jungen Mann dicke Quaddeln, während man meine Stellen mit der Lupe suchen muss. Meine allergischen Reaktionen beschränken sich auf Hausstaub und Pollen. Mit all diesen Ergebnissen ist „die Schwere der Symptomatik“ keinesfalls zu erklären, meint die Allergologin. Als ich wieder nach einer Ursache bohre, vermag sie nur von einem „eingeschliffenen Reflex“ zu sprechen.
Ohne Hoffnung liege ich erneut auf der „Inneren“. Abgesehen von der gut gefüllten Medikamenten-Schachtel versucht man es zur Abwechslung mal mit einer Fußreflexzonen-Massage. Aber diese Stimulierung, die per Fußdruck meinen Bronchialschleim lösen soll, bewirkt das Gegenteil. Kurz nachdem mich die Therapeutin verlassen hat und ich allein in dem Behandlungskeller zurückbleibe, erfasst mich ein Erstickungshusten, dem ich nur mit einem übermenschlichen Zwang zum Ruhigbleiben etwas Luft abgewinnen kann.
Zur Nacht nehme ich weiter schwere Mittel, um über die Atemnot irgendwie hinwegschlafen zu können. Aber sie wirken jetzt nicht mehr. Außerdem erlebe ich Abend für Abend eine zusätzliche Folter: Vor unseren Fenstern lärmt mit Blech und Tschingderassa der Roncalli-Zirkus seine „Musik“ herunter – allabendlich bis Mitternacht die gleiche Nummer. Wie ich diesen Zirkus seitdem hasse! Noch heute muss ich bei den Plakaten wegschauen, und wenn man mir dafür Karten schenken würde, würde ich sie wegwerfen. In der Klinik ist man inzwischen mit dem Mediziner-Latein am Ende, und so verwundert es nicht, dass ich nun ganz vorsichtig auf das Psycho-Gleis geschoben werde. „Einer psychosomatischen Behandlung steht die Patientin aufgeschlossen gegenüber“, heißt es im Krankenhaus-Bericht.
Auf dem Psycho-Gleis
21. August 1987
Vom Krankenhaus St. Georg werde ich in der psychosomatischen Abteilung der Uni-Klinik angemeldet. Wieder einmal erzähle ich meine Krankengeschichte. Dabei wird mir die Hoffnungslosigkeit meiner Lage erneut bewusst, meine Nerven sind schwach geworden, und ich breche in Tränen aus. Doch die schmallippige Therapeutin bleibt kühl. „Ist Ende 1985, als Sie krank wurden, etwas Besonderes passiert?“, fragt sie. Diese Frage kenne ich schon, und ich werde sie immer wieder hören. Nein, es ist nichts Besonderes passiert. Dann muss ich meine Biographie erzählen. Meine Eltern: der Vater Bankdirektor im Ruhestand, oft von Katarrhen geplagt; die Mutter Hausfrau und mit Ende vierzig an Heuschnupfen erkrankt, den sie aber mit einer Eigenblutbehandlung loswerden konnte.
Eine erbliche Belastung ist also da, das sehe ich auch, aber muss jede Disposition zum Ausbruch der Krankheit führen? Und muss jede ausgebrochene Krankheit deshalb für immer bleiben? Ich werde schon wieder rebellisch. Also weiter. Meine einzige Schwester, „nervenkrank“. Aber was hatte das mit mir zu tun? Mein eigener Werdegang: Abitur, Journalistin geworden, mit knapp vierundzwanzig einen Pastorensohn geheiratet, der später Marktforscher wurde; zwei Fehlgeburten, nach 14-jähriger Ehe Trennung, zwei Jahre später Scheidung. Ein Jahr lang „Single“ und seither mit einem iranischen Teppichkaufmann zusammenlebend. Das war’s.
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