Konnte die anthroposophische Medizin überhaupt eine Chance bieten? Rudolf-Steiner-Schule, Waldorf-Schule – ich wusste nicht viel darüber. Ich hatte mal ein Buch von Rudolf Steiner in die Hand genommen, meinen Leseversuch aber nach wenigen Kapiteln wieder aufgegeben. „Er kann einfach nicht gut schreiben“, äußerte ich respektlos in der Anthroposophischen Buchhandlung und erbat mir erstmal eine Einführung in sein Werk. Meine Freundin Ulli, Journalistin wie ich, die von einer anthroposophiegläubigen Bekannten missioniert werden sollte, hatte die gleichen Schwierigkeiten. Mit „Geistgestalt“ und „Lebensleib“ können wir beide bis heute nichts anfangen. Trotzdem hatte ich später nichts dagegen, als ich in zwei Krankenhäusern anthroposophisch behandelt werden sollte.
Während die Schulmedizin mit Symptom-Unterdrückung mein Überleben sichert, geht auf der nicht-allopathischen Schiene meine Suche weiter. Dr. Morgner, Kassenarzt für Naturheilverfahren, ist ein junger, cooler Typ. In seinem Wartezimmer umgibt mich Öko-Touch: Sisalboden, Grünlilie und abgerundetes Holzspielzeug signalisieren die Affinität zu natürlichen Heilwegen. Dr. Morgner geht homöopathisch vor. Während ich vor ihm sitze, studiert er dicke Arzneibücher, blättert und blättert und blättert. Endlich hat er ein paar Mittel mit den passenden Potenzen gefunden. Er überreicht mir das Rezept.
„Nehmen Sie diese Tropfen, wundern Sie sich aber nicht, wenn beim ersten Mal eine Bombe hochgeht.“
Unbehagen kriecht in mir hoch. Gemeint war, wie ich später erfuhr, die sogenannte „Erstverschlimmerung“ in der Homöopathie.
Wochenlang schlucke ich konsequent die verordneten Tropfen. Aber weder geht eine Bombe hoch, noch ändert sich irgendetwas an meinem Asthma. Es passiert einfach gar nichts. Bevor ich eine Entscheidung für oder gegen Dr. Morgner treffen kann, ist er in eine andere Stadt umgezogen.
Noch immer schwelt meine Sinusitis weiter. Mein HNO-Arzt, Herr Dr. Paulsen, der inzwischen alle Register seines Könnens gezogen hat, empfiehlt nun, mich in der HNO-Abteilung der Uni-Klinik untersuchen zu lassen. Nachdem ich dort einen Vormittag meiner Arbeitszeit versessen habe – Anmeldung gibt es nicht – , komme ich endlich an die Reihe. Wieder einmal werden meine Nebenhöhlen geröntgt. Angesichts der „beidseitigen Verschattung“ rät mir die dort tätige Ärztin dringend zu einer kompletten Nasenoperation. Ich sage, dass ich es mir überlegen werde, innerlich steht mein „Nein“ bereits fest. In diesem Fall, und nicht nur in diesem, berufe ich mich gern auf Manfred Köhnlechner und sein Buch „Vermeidbare Operationen“. Im Übrigen kenne ich eine Dame in meinem Alter, die schon 14 Nasenoperationen mitgemacht hat und ihr Asthma trotzdem nicht losgeworden ist.
Oft kommt mein Schwager zu Besuch und bringt mir Sprays und andere schulmedizinische Medikamente mit. Nader, der Bruder meines Mannes, ist Oberarzt in der Chirurgischen Abteilung eines Krankenhauses. Asthma ist nicht sein Gebiet, aber er fragt überall bei Kollegen herum, um Hilfe für mich zu finden.
„Die Sinusitis muss ausgeheilt werden, sonst hast du mit dem Asthma keine Chance“, meint auch Nader. „In den Nebenhöhlen kann sich eine Entzündung so einkapseln, dass auch ein Antibiotikum nicht heran kann.“
„Wozu haben wir überhaupt diese Höhlen?“
„Diese Höhlen tragen u.a. unseren Kopf“, erklärt Nader. „Ohne dieses System von Gewölben könnten wir unseren Kopf gar nicht halten.“ Trotzdem: An meine Nase lasse ich keinen heran.
Akupunktur: halbnackt vor Studenten
20. Oktober 1986
Da scheint Hilfe von ganz anderer Seite zu kommen. Bei uns zu Gast ist neuerdings eine iranische Akupunktur-Ärztin, Frau Dr. Ghassemzadeh. Als sie von meinem Problem hört, ist sie sofort bereit, die Behandlung zu übernehmen.
Mit ihrer Laser-Akupunktur könne sie sowohl die Sinusitis als auch das Asthma therapieren. Das wäre ja wunderbar, denke ich, dann wäre das Thema Operation endgültig vom Tisch. Und da Frau Dr. Ghassemzadeh nicht nur Akupunktur-Ärztin, sondern auch Lungenfachärztin ist, scheint mir das die ideale Verbindung zu sein. Sofort besorge ich mir Literatur über Akupunktur. Der „Akupunktur-Papst“ ist Professor Bischko in Wien, und bei dem hat Frau Dr. Ghassemzadeh gelernt! In Hochstimmung erkläre ich sie innerlich zu „meiner Ärztin“, mit der nun alles klappen muss. Die Frau Doktor hat neben ihrer Praxis einen Lehrauftrag an der Uni-Klinik und bietet mir eine kostenlose Behandlung an, wenn ich mich als Demonstrationsobjekt für die Studenten zur Verfügung stelle.
Inzwischen hat sich meine Krankheit verschlechtert, die Anfälle häufen sich. Aber nun fahren wir nicht mehr in die Krankenhaus-Ambulanz, sondern mein Mann ruft telefonisch den Notarzt. Trotz meines schlimmen Anblicks bleibt er dabei immer ruhig, so dass sich nicht noch zusätzliche Panik auf mich überträgt. Die Notärzte sind immer in wenigen Minuten da, viele bleiben, bis der Anfall abgeklungen ist.
Nach Dienstschluss fahre ich mehrmals in der Woche per Taxe zur Uni-Klinik. Nachdem ich mich mühsam die Treppe zum Hörsaal hochgehangelt habe, ziehe ich mich in einem Nebenraum um und nehme dann halbnackt vor dem Auditorium Platz. Es macht mir nicht viel aus, ich bin von mir selbst absorbiert und sehe das Publikum nur als konturenlose Menge. Frau Dr. Ghassemzadeh stimuliert mit dem elektronischen Laser-Stab sekundenlang verschiedene Punkte meines Körpers, zuvor müssen einige Studenten aufs Podium kommen und die Punkte an mir benennen. Yin und Yang sollen in mir wieder in Balance kommen. Da, wo sich zuviel staut, soll entlastet werden und da, wo zuwenig ist, soll hinzugefügt werden, Wenn Chi, die Lebensenergie, wieder richtig durch die Meridiane fließt, werde ich gesund sein.
Eines Tages führt uns Frau Dr. Ghassemzadeh ein eindrucksvolles Beispiel für ihre Heilmethode vor. Auf einer Trage wird eine mittelalte Frau in den Saal gefahren, an der die Ärztin das Akupunktieren mit Nadeln zeigen möchte. Die Frau ist inzwischen gesund. Als sie ihre Geschichte erzählt, klingt es wie eine Wunderheilung.
„Acht Jahre lang war ich schwer asthmakrank. Mein Mann ist mit mir kreuz und quer durch Deutschland gefahren, nirgendwo fand ich Hilfe. Am Schluss konnte ich nur noch im Keller schlafen, jeder andere Ort belastete mich.“
Nur der Kunst von Frau Dr. Ghassemzadeh habe sie es zu verdanken, dass sie jetzt wieder normal leben könne.
Um meinen Durchhaltewillen zu stärken, gibt mir die Frau Doktor die Telefonnummern verschiedener Patienten, die sie mit Erfolg behandelt hat. Alle leben auf dem Lande – die Ärztin praktiziert in Lüneburg – , alle haben sie allergisches Asthma, und alle bestätigen mir am Telefon, dass Frau Dr. Ghassemzadeh sie gesund gemacht hat. Mit Enten, Hühnern und Eiern hätten sie sich bei ihr bedankt, erzählt mir die Frau Doktor.
Was mich betrifft, so ziehe ich ein volles Jahr lang drei Akupunktur-Serien durch. Statt mein Leiden zu lindern, werden die abendlichen Hörsaal-Vorstellungen zur zusätzlichen Bürde in meinem Tagesablauf. Gekrümmt, wie ich gekommen bin, verlasse ich den Saal, schleppe mich zum Park und presse, hinter einem Baum versteckt, mit letzter Kraft das Spraymittel in meinen Rachen. Erst dann fühle ich mich in der Lage, in die Taxe zu steigen.
Nur einmal in diesem Jahr, es war nach einer fünften Akupunktur, geht es mir ein paar Wochen besser. Begeistert schenke ich Frau Dr. Ghassemzadeh eine schicke Unterarm-Tasche. Doch es war nur ein Zwischenspiel, der Abstieg ins Elend ließ sich nicht aufhalten.
Die Frau Doktor hatte getan, was sie konnte. Sie hatte mir gezeigt, wie ich kopfüber meine morgendliche „Bronchialtoilette“ machen musste, hatte mir meine Angora-Pullover „verboten“ und mich später mit einem Besuch im Krankenhaus aufgemuntert. Offenbar hatten alle spöttelnden Kritiker aus unserem Bekanntenkreis recht behalten: die Akupunktur wirkte nicht, bei mir konnte „der Engel von Lüneburg“ nichts ausrichten.
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