Das fängt ja ziemlich falsch an, denke ich, empfinde aber dankbar Frau Zeuners sensible Zuwendung. Während unseres Gesprächs verliere ich vollkommen meine Fassung und breche in Tränen aus. „Beschreiben Sie einmal, wie Sie sich fühlen“, fordert mich Frau Zeuner auf. Total erschöpft fühle ich mich, körperlich und seelisch am Ende, erkläre ich ihr. Ich habe keine Hoffnung mehr, bin verzweifelt. Alles habe ich versucht, aber jetzt glaube ich langsam, es hat keinen Zweck mehr ... Frau Zeuner reicht mir einen Korb, aus dem ich mir ein Fläschchen mit einer Blütenessenz aussuchen soll. Es handelt sich um die so genannte „Bach-Blüten-Therapie“, die in den zwanziger Jahren von dem englischen Arzt Dr. med. Edward Bach entwickelt worden ist. Er hatte herausgefunden, dass die Blütenessenzen von 38 heimischen Pflanzen auf bestimmte negative Seelenzustände einwirken, die mit spezifischen Krankheiten gekoppelt sind. Nimmt man nun einige Tropfen dieser Essenzen – je nach individueller Situation zum Beispiel gegen „Hochmut“, „Intoleranz“ oder „Niedergeschlagenheit“ – , dann wandeln sich die negativen Zustände ins Positive, und die Krankheit verschwindet.
„Das Fläschchen, das Sie brauchen, wird auf Sie zukommen“, erläutert mir die nette Dame. Genauso wie die passenden Bücher und Menschen auf mich zukommen, wenn die Zeit dafür reif ist. Das hatte mir schon meine Kosmetikerin erklärt.
Es ist bezeichnend, dass ich heute nicht mehr weiß, welches Fläschchen ich gezogen bzw. welche Pflanze mich gesucht hatte. Und außerdem: Wie sollten so feine Dinge so schwere somatische Störungen beseitigen können?
Als nächstes bittet mich Frau Zeuner, mich auf die Lederliege zu legen. Sie arbeitet meine Chakren durch – „das Wichtigste ist das Sonnengeflecht“ – , muss aber ihre Versuche aufgeben, da mich ein Hustenanfall in die Senkrechte treibt. Der Husten zieht wie ein Sog nach innen, mich ergreift Panik, und ich kann nur noch unter Mühen die Luft herauspressen. Frau Zeuner reicht mir die „Bach-Notfall“-Tropfen, aber ich lasse mir ein Glas Wasser geben und nehme meine Theophyllin-Tropfen. Ich bin sicher, dass ich allein mit Bach nicht lebendig nach Hause gekommen wäre.
Die Jahreswende von 1987 auf 1988 erlebe ich in zunehmend schlechter Verfassung. Die Anfälle häufen sich, der Notarzt wird fast zum Dauergast, und Silvester verbringe ich im Bett vor dem Fernsehschirm. Sogar die Karten für den jährlichen Presseball haben wir zurückgegeben. Während andere Asthmatiker Zeiten haben, in denen sie ihre Krankheit kaum spüren, begleitet mich das Leiden Tag und Nacht, Stunde um Stunde – es gönnt mir im wahrsten Sinn keine Atempause. Nachts liege ich mit rasselnden Bronchien neben meinem Mann und stelle ihm immer dieselben Fragen. Verzweifelt, zornig und quengelnd wie ein Kind: Wann hört das endlich auf? Wie lange muss ich das noch ertragen? Warum bin ich so krank? Was habe ich bloß getan? Und mein Mann, obwohl Nacht für Nacht in seinem Schlaf durch mich gestört, antwortet voller Ruhe immer dasselbe: „Keine Sorge, das geht vorbei. Eines Tages wird die Krankheit verschwinden. Ich habe selbst mehrere Fälle in Persien erlebt, wo es so gewesen ist.“
Gesund werden mit Furtwängler?
4. Januar 1988
Aber darauf möchte ich nicht warten. Meine Ungeduld, ein Erbteil meiner Mutter, lässt mich nicht ruhen. Irgendwie müsste das Asthma doch wegzukriegen sein, schließlich ist es „nur“ eine Funktionsstörung, die Organe selbst sind ja (noch) nicht kaputt. Auch mein Arzt-Schwager zergrübelt sich weiter den Kopf. Aufmerksam liest er noch einmal meine Krankenhaus-Berichte. Ich hätte, so meint er, zu viele Allergiezellen im Blut. Mein Immunsystem sei sehr schwach, ich solle es doch einmal mit einer Thymustherapie versuchen. Thymus? Davon hatte ich im Zusammenhang mit Krebs gehört. Ich besorge mir die entsprechende Literatur und bin schon bald von dem Thema fasziniert. Wieder einmal keimt Hoffnung auf ...
Ich wusste gar nicht, dass die Thymusdrüse ein so wichtiges Organ ist. In der Jugend, so lese ich, regelt sie das Wachstum, später sorgt sie für ein funktionierendes Immunsystem. Doch in den mittleren Lebensjahren schrumpft das Organ – das konnte man bei Leichenöffnungen feststellen – und macht eben ein Teil der Menschen immunschwach. Das kann dann zu den großen gravierenden Krankheitsgruppen unserer Zeit führen: Krebs, Allergien und autoimmune Krankheiten wie Rheuma und Diabetes. Und mich hatte es also in der Gruppe zwei erwischt. Wenn man nun, so erfahre ich, Zellteile aus der Thymusdrüse des Kalbes spritzt, dann kann man die Immunkräfte des Kranken stärken.
Als ich meinem Lungenfacharzt Dr. Thiele diese Therapie für mich vorschlage, ist er gleich einverstanden. Er verspricht sich zwar nicht viel davon, stellt sich aber auch nicht dagegen. Inzwischen haben sich meine Thymuskenntnisse noch durch die spannenden Bücher des amerikanischen Psychiaters John Diamond erweitert, der Tests mit Thymusreaktionen gemacht hat. Für ihn ist Krankheit ein Problem auf der Energieebene und „der mysteriöse Thymus“ Sitz der Lebensenergie. Man kann ihn, je nach Verhalten, selbst stärken oder schwächen. Zum Beispiel, wenn man Musik hört. Der alte Rock ‚n Roll, Jazz und Klassik wirken positiv, Rockmusik à la Janis Joplin sowie Popmusik negativ. Diamond bietet sogar eine Zusammenstellung spezieller „energiestarker“ Aufnahmen mit einzelnen Dirigenten und Komponisten.
Auch wenn man auf den Thymus klopfe – er sitzt hinter dem Brustbein – könne man ihn stärken. In allen Lebensbereichen könne man thymus-positiv und thymus-negativ agieren. So reichen Diamonds Vorschläge vom Verzicht auf weißen Zucker bis zum Weglassen von Synthetikwäsche. Von Natur aus schlechter dran seien allerdings Menschen mit Sanpaku-Augen, d.h. Menschen, bei deren Augen auf drei Seiten um die Pupillen Weiß zu sehen ist, einem Zeichen für schwache Lebensenergie. Sanpaku-Augen (japanisch: san = drei, paku = Seiten) hatten John F. Kennedy und Marilyn Monroe – ich habe sie zum Glück nicht.
Das alles ist mir sehr sympathisch. Allein schon das Wort: „Thymos“ kommt aus dem Griechischen und bedeutet „Lebenskraft“, „Seele“ und sogar „Atem“. So lasse ich mir Spritzen geben, klopfe mir täglich aufs Brustbein und höre Beethovens Neunte mit Wilhelm Furtwängler, dem „transzendentesten aller dirigierenden Männer“. Aber meine Krankheit bleibt so schlimm wie immer. Auch nach der zwölften Spritze merke ich keinerlei Besserung.
Waren all die alternativen Medikamente und Methoden ein Irrweg? Vielleicht musste man doch bei der Psyche ansetzen. Immerhin gilt Asthma als eine der klassischen psychosomatischen Krankheiten. Auch in der Redaktion gingen die Spekulationen in diese Richtung. „Das ist bei dir rein psychisch“, war noch milde ausgedrückt gegenüber der Behauptung unseres Gartenredakteurs: „Du hast überhaupt kein Asthma.“ Damit war nicht gemeint, dass ich simuliere, sondern nur, dass ich aus irgendwelchen Gründen unnötige Symptome produziere. Ein anderer Kollege, ein schwerer Trinker und Raucher, bot mir an, mit abendlichem An-mich-Denken eine Fernheilung zu versuchen.
Gibt es eine Asthmapersönlichkeit, so wie man – auch das wohl fälschlicherweise – von einer Krebspersönlichkeit spricht? Fritz Zorn hatte in seinem Buch „Mars“ seine tödliche Krebserkrankung auf sein kastrierendes großbürgerliches Milieu zurückgeführt; doch diese Ansicht hatte mich nie überzeugt, zumal sie die Eigenverantwortung zu wenig in den Blick nimmt. Zu unterschiedlich waren überdies die jeweils krebskranken und die asthmakranken Menschen, die ich kennenlernte und noch kennenlernen sollte. Aber ich will mich vor der Frage nicht drücken, ich will mir selbst auf die Spur kommen. Und so muss ich mir erst einmal eingestehen, dass mich eine Krankheit getroffen hat, die das Zentrum und Fundament jeglichen Existierens berührt. Atmen ist Leben, und Leben ist Atmen. Das Wort „atmen“ (indisch: atman) steckt auch in „Mahatma“, was mit „große Seele“ und „großer Atem“ übersetzt wird. Es geht also ums Ganze. Wer nicht mehr atmen kann (oder will?), der kann nicht mehr leben.
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