Kyra riss den Blick von dem Hund los und blickte zum Vater.
„ Komm zu mir“, suggerierten die Augen.
Martin rieselten Gänseschauer über den Rücken. Kyra wirkte bedrohlich. Das süße Babygesicht mit den alten wissenden Augen, deren Bann er nicht widerstehen konnte. Magisch angezogen nahm er sie auf den Arm. Wie alle kleinen Kinder langte sie spielerisch an seinen Schnurrbart und strich darüber. Sie beugte ihr Gesicht dahin und rieb die Wangen über seinen Stoppelbart. Fröhlich jauchzend klang ihr Gelächter durch den Raum. Doch sie war kein Kind, sondern sein Baby. Ebenso spielerisch wie zielsicher griff Kyra durch sein offenes Hemd an die Kette mit dem Stein. Martin beobachtete sein Baby mit gemischten Gefühlen. Einerseits lächelnd und stolz, anderseits mit Abscheu.
„ Nimm den Stein heraus“, sagten ihre Augen.
Er zog widerwillig die Kette über den Kopf, nahm den Stein aus der Fassung und hielt ihn ihr hin. Sanft wurde der Stein von ihren Fingerchen zur Faust umschlossen.
„ Hallo Martin“, Heins Stimme dachte fast augenblicklich in seinem Gehirn. „Die Zeit ist da. Der Stein gehört jetzt mir. Du musst ihn weitergeben.“
„ Hallo Hein. Nein … du bist nicht Hein.“
„ Richtig. Nicht Hein. Ich bin es. Kyra. Du hältst die körperliche Hülle, die mein Gehirn trägt und versorgt, auf deinem Arm . . .“
Er erschrak und musste fester zupacken sonst wäre sie herunter gefallen. Die Stimme zog kalt und gefühllos durch seine Gedanken. „Wie kannst du deinen Körper als Hülle bezeichnen. Er gehört zu dir und deinem individuellen Ich.“
„ Werde nicht sauer. Ich muss viele Begriffe und Gefühle erst verstehen lernen. Deine Gefühlswelt ist mir nicht bekannt. Ich muss mehr von dir wissen, um die richtige Abstimmung zu bekommen. Du bezeichnest mich als gefühlskalten Gedanken, weil ich keine Emotionen verstehe. Genauso war es bei Britta. Im Moment ist mein Körper eine Hülle. Ich kann mich noch nicht richtig bewegen, ich kann noch nicht sprechen, ich bin gefangen.“
„ Mein Gott Mädchen … du bist drei Wochen alt. Menschen benötigen Zeit, bis sie sich bewegen und artikulieren können. Ist dir das klar?“
„ Sicherlich. Ich habe viel darüber nachgedacht. Aber ich bin nicht jeder Mensch. Ich bin außergewöhnlich.“
„ Bist Du vielleicht ein wenig eingebildet oder größenwahnsinnig?“
„ Ich denke nicht. Ich habe Wissen und Fähigkeiten, von denen du und alle anderen Menschen nur träumen.“
„ Und? Wer oder was gibt dir das Recht so überheblich zu sein?“
„ Du erregst dich und wirst zornig. Das ist ein denkbar schlechter Beginn. Ich bin weder überheblich noch größenwahnsinnig. Ich stelle lediglich fest.“
„ Gut. Fangen wir von vorne an. Ich habe selbstverständlich viele Fragen. – Fragen an mein Baby . . . ach Gott, wie blöd ich mir vorkomme.“
„ Für mich ist die Situation auch blöd. Ich muss dir die elementarsten Dinge, die mir selbstverständlich sind, erklären. Was glaubst du, wie ich mich fühle?“
„ Fängt das schon wieder an. Also, was hat der genetische Frevel mit deinem Verstand angestellt?“
„ Hat Britta dir nichts erzählt? Ich denke, das war klar. Hein hat den Eingriff vorgenommen.“
„ Hein also. Was ist bei dir anders, als bei – fast hätte ich gesagt, normalen – anderen Menschen?“
„ Nicht viel. Ich benutze mein Gehirn, die anderen nicht.“
„ Jetzt ist Schluss. Deine Arroganz ist nicht zu überbieten.“ Martin rang um Fassung.
„ Nur Kleingeister flüchten in einen Wutausbruch. Du musst dein Blut und deinen Verstand kühl halten. Nur dann können wir uns verständigen. Nun, zurück zu deiner Frage. Ich teste mein Gehirnvolumen und die Einsatzmöglichkeiten noch. Jedoch weiß ich schon, dass ich allwissend bin.“ Die Gedanken glitten kühl durch sein Gehirn.
„ Allwissend? Na ja. Und woher willst du alles wissen?“
„ In meinen Genen ist das Kollektivwissen der Welt.“
„ Bist Du der Allmächtige oder überschätzt du dich nur?“
„ Die Frage ist metaphysischer Art. Ich kann lediglich philosophieren. Der Allmächtige wird von dir und den Menschen als Gott, mit unterschiedlichen Namen, definiert. Der Allmächtige ist eine Frage des Glaubens. Also des Nichtwissens. Aber … ich bin ich. Also gegenständlich. Deshalb kann ich nicht in dem Sinne allmächtig sein, den du ansprichst. Das ist ein Unterschied.“
„ Ach … lassen wir das. Ein anderes Thema … wieso können wir uns verständigen?“
„ Das ist einfach. Du hattest den Stein und die entsprechenden Schwingungen.“
„ Ich kann mich nur über den Stein mit dir unterhalten?“
„ Solange mein Körper so unzulänglich ist und die Sprachmechanismen noch nicht ausgebildet hat – ja.“
„ Was macht den Stein so besonders?“
„ Darüber bin ich nicht befugt zu sprechen.“
„ Nicht befugt? Oder willst du nicht?“
„ Ich habe mich falsch ausgedrückt. Ich weiß es nicht.“
„ Und du sagst, du bist allwissend? Aber, du weißt um die besondere Bedeutung des Steines?“
„ Ja.“
„ Bist Du in der Lage die Struktur zu bestimmen oder ist dir das Material bekannt, aus dem er besteht?“
„ Nein.“
„ Verdammt. Lass dir doch nicht alle Informationen wie Würmer aus der Nase ziehen. Sage mir endlich, was mit diesem Ding los ist. Ich bin schließlich dein Vater und auch kein Idiot.“
„ Selbst wenn ich wollte – ich könnte es dir nicht sagen.“
„ Warum nicht?“
„ Weil meine Fähigkeiten, die ich langsam über deinen Verstand verstehen lerne, gefährdet sind. Ich könnte sie verlieren. Der Stein bewahrt und verteidigt sein Geheimnis.“
„ Über meinen Verstand lernst du?“
„ Ja. Über deinen Verstand lerne ich die Kapazität eines menschlichen Gehirns kennen. Ich verstehe jetzt, warum du nicht verstehst.“
„ Du machst mich noch verrückt.“
„ Da mache dir keine Sorgen, Martin. Dein Gehirn und dein Verstand sind zwar leer – na ja, um dir nicht wehzutun, nicht besonders leistungsfähig -, aber sehr stabil. Du kannst nicht verrückt werden.“
„ Wieso sind deine Fähigkeiten in Gefahr, wenn du mir hinsichtlich des Steines auf die Sprünge hilfst?“
„ Wenn ich das wüsste? Ich weiß es einfach. Meine Kapazitäten könnten eingeschränkt werden. Aber, ich lerne begreifen, wenn du sagst, du würdest verrückt. Diese Situation stellt sich auch bei mir ein, wenn ich an einen Punkt gelange, an dem ich nicht weiter komme.“
„ Deine Mutter sagte mir, du sprichst mit dem Hund?“
„ Sprechen ist falsch ausgedrückt. Wir tauschen Gefühle und Empfindungen. Wir kennen uns seit Jahrtausenden. Und außerdem ist der Hund … Wolf.“
„ In dieser kurzen Antwort stecken wieder tausend Fragen. Wieso kannst du mit dem Hund Gefühle austauschen? Was soll das mit dem Wolf und ihr kennt euch seit Jahrtausenden?“
„ Du bist wirklich ein Kleingeist, Martin. Das solltest doch auch du verstehen. Du hältst mich jetzt auf deinem Arm. Wenn du mich anschaust, spüre ich dein Gefühl für mich. Ich bringe dir meines entgegen - das ist dir auch bewusst, wie ich feststelle. Mit Wolf ist es nichts anderes.“
„ Und? Mit den Jahrtausenden?“
„ Du hast die Höhle gefunden. In der Grotte ist ein Raum, in der Wolfs Vorfahrin beigesetzt wurde. Und zwar von Arget, unserem steinzeitlichen Vorfahren – ich sehe in Deinen Gedanken, dass du dich erinnerst – der als erster Wolf zum Gefährten hatte. Wolf hat in allen Zeitabschnitten die Menschen unserer Familie begleitet, soweit sie die Eigenschaften des Kiesels nutzen konnten.“
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