„Ich will im Grunde nichts von dir. Außer dem Stein.“
„Was weißt du von dem Stein?“
„Das sollte dich nicht interessieren. Gib mir den Stein und ich werde euch in Frieden ziehen lassen.“
„Weshalb willst du den Stein?“
„Bei der Großen Mutter. Gib mir einfach den Stein.“ Agnat schrie ihn wütend an. Seine Männer scharten sich hinter ihn. Sie verstanden nicht, was hier vor sich ging.
Arget tat einige Schritte auf ihn zu. Der Größenunterschied wurde deutlicher, je näher er auf ihn zu trat. Arget war ein Zwerg.
„Hole ihn dir.“ Er zeigte auf den Fellbeutel auf seiner Brust. „Komm.“ Er ging noch einen Schritt näher und stand nun genau vor ihm.
„Du musst ihn mir geben“, winselte Agnat. Sein Gesicht verlor alle Farbe. Er konnte die Nähe Argets, wie es schien, nicht ertragen.
Arget hob seinen Finger und bewegte ihn in Richtung Agnats Brust. Aufschreiend sprang dieser zurück.
„Ich werde den Stein bekommen. Darauf kannst du dich verlassen. Nimm dein Weib und verschwinde. Wir werden uns wiedersehen.“ Er zeigte in den Wald und machte das deutliche Zeichen, dass er verschwinden solle.
Arget trat Schritt für Schritt zurück und zog Byrda mit.
*
Der Winter war vorüber und der Frühling schickte seine ersten Vorboten. Der ewige Wandel der Natur vom Tod zum Leben begann.
Der diesjährige Winter war mild gewesen. Die langen Nachtfröste blieben aus. Lediglich bei den Mondwechseln sanken die Temperaturen unter die Frostgrenze.
An einem sonnigen Morgen, die kalten Winde bliesen noch unermüdlich, wanderte Arget unruhig durch seine Höhle. Der Wolf war einige Zeit nach der Rückkehr aus der Waldsiedlung wieder aufgetaucht und hatte drei Welpen mitgebracht. Das Gesäuge hing noch dick vom Bauch.
Byrda saß bequem auf einem Felllager und bastelte an einem kleinen Werkzeug herum. Sie beobachtete ihren Gefährten.
„Setz dich doch endlich in eine Ecke und verbreite nicht solche Unrast“, sanft klang ihre Stimme zu ihm.
„Ich habe keine Ruhe. Ich muss auf die Jagd.“
„Ja. Und warum machst du hier alle nervös? Geh doch.“ Sie hatte sich schon in den letzten Tagen darauf vorbereitet. Bei den Männern ihres Stammes war es das Gleiche. Im Frühjahr wurden sie unruhig und unausstehlich. Die Natur zog sie nach draußen. Oft blieben sie tagelang weg und kamen dann erfrischt und bester Laune zurück.
Arget packte seinen Wurfspeer und einen Fellbehälter mit kleinen Werkzeugen sowie einigen getrockneten Nahrungsmitteln, den er schon vor Tagen vorbereitet hatte.
„Ich werde nur ein oder zwei Tage wegbleiben. Ich mache mir Sorgen um dich und unser Kind.“
„Ach du Kindskopf. Weshalb solltest du dir Sorgen machen. Es haben schon viel mehr Frauen Kinder geboren, als ich zur Welt bringen kann.“
„Trotzdem“, brummelte er heraus und schon auf dem Weg zum Ausgang, um ja möglichst schnell wegzukommen. Mit seinem Schwanz peitschend, lief Wolf neben ihm her.
Arget marschierte in direkter Richtung zur Mulde. Alle seine Sinne zogen ihn dorthin. Ungefähr zwei Jahre war er nicht mehr dort gewesen.
Der Wanderung war trist und machte ihn dennoch frei. Die Bäume waren noch winterlich entlaubt und ragten wie Totenfinger in den morgendlichen Himmel. Die Gräser lagen braun und sterbend am Boden, um den Platz für das neue Grün vorzubereiten. Nur einige Spatzen begrüßten sie auf ihrem Weg.
Schließlich stand er auf der kleinen Anhöhe und blickte auf den kleinen Quell, der sprudelnd sein Wasser in die Welt entließ. Die karge Natur, mit dem einzigen Leben des plätschernden Wassers, berührte ihn.
Er ließ seinen Blick über das Hochmoor schweifen. So früh in der Jahreszeit war er noch nie hier gewesen. Weit konnte er über, durch Landverbindungen unterbrochene, Wasserflächen blicken. In der Jahreszeit später würde der Pflanzenbewuchs das meiste verbergen.
Wolf tollte weit vor ihm durch die flachen Wasser auf der Jagd nach einer Ente, die ihn immer wieder narrte.
Langsam stieg Arget vom Hügel herab und ruhte am Bachlauf, um sich mit einem Stück getrockneten Fleisches zu stärken und an dem klaren Wasser zu erfrischen.
Wolf stellte seine Lauscher hoch und lief um den Hügel herum. Arget folgte ihm. Die Sonne wärmte noch nicht und es wurde kühl und damit Zeit zur Suche eines geschützten Nachtlagers. Langsam folgte er Wolf in die Richtung, in der er hinter dem Hügel verschwunden war. Er kam gerade dazu, als Wolf in einer Bärenhöhle verschwand. Während er näherkam, stellte er fest, dass der Eingang gerade so groß war, dass Wolf hinein konnte, aber nicht ausreichend für ihn. Also kein Bär. Arget steckte den Kopf hinein, konnte jedoch nichts erkennen, weil er den Lichteinfall verdeckte. Es war eine Lehmhöhle. Er warf sich mit den Schultern dagegen und schon bröckelten die ersten Stücke heraus. Mit Spaten und Speer verbreiterte er die Öffnung, sodass er hineinkriechen konnte. Nach ungefähr zwei Mannlängen wurde der Gang zu einem großen Raum. Er schüttelte verblüfft den Kopf. Dieser Hohlraum war ihm in all den Jahren nicht aufgefallen.
In der Höhle war es angenehm warm. Die Wände waren trocken und der Boden geglättet. Spärlich fiel das Licht von außen ein und ließ ihn nur schwache Konturen erkennen. Er machte Wolf als Schemen aus.
Eilfertig krabbelte Arget wieder nach draußen und sammelte Reisig sowie trockenes Moos. Seine steifen kalten Fingern bereiteten einige Schwierigkeiten, den Feuerstein zu schlagen. Dennoch gelang es ihm, den kleinen Rauchfaden im trockenen Moos, zu einer züngelnden Flamme, zu entfachen. Mit dem Reisig entfachte er ein Feuer und beleuchtete die Höhle.
Fassungslos schaute Arget sich um. Der Raum hatte riesige Ausmaße und schien den gesamten Hügel einzunehmen. Das Feuer konnte die Wände im Hintergrund nicht erhellen. Er schlug mit seinem Spaten gegen die Wand neben ihm. Sie klang dumpf und schien lediglich aus der Lehmschicht zu bestehen.
Wie er vorhin schon festgestellt hatte, war der Raum sehr trocken und vor allen Dingen, warm. Keine Feuchtigkeit drang aus den Wänden oder durch den Boden. Fatalistisch nahm er die Existenz der Höhle hin.
Bei näherer Besichtigung des Gewölbes stellte er fest, dass Nischen in die Wände führten. Sie ragten oft mehrere Schritte in die Wände hinein oder wurden Gängen, die er nicht verfolgen mochte. In einer der Nischen richtete er sein Nachtlager, weil er sich in der Weite des großen Raumes fürchtete.
Als er erwachte, hatte sich die Höhle verändert. Zunächst konnte er nicht festmachen, was es war. Doch plötzlich klickte es in seinem Verstand. Das Gewölbe erleuchtete sich aus den Wänden heraus.
Nachdem er das Wunder verdaut hatte, erkundete er mit der Wölfin die Höhle. Langsam realisierte er, dass er in dem Gewölbe alles erkennen und sehen konnte. Das sanfte Licht aus den Wänden ließ ihn den gesamten Umfang des gigantischen Gebildes erfassen.
Ein Gang, der in die Wand hinein führte, lockte ihn. Arget wurde neugierig, ob dort vielleicht noch ein Aus- oder Eingang war. Trotz seiner Angst zog es ihn hinein. Automatisch setzte er Schritt vor Schritt. Der Gang war hoch und breit, sodass er aufrecht gehen konnte. Auch hier bestanden die Decke und Wände aus Lehm. Nach zwei Dritteln des Weges schimmerte Licht hinter einer Biegung des Ganges. Dort angelangt staunte er in eine fremde Welt hinein. Er glaubte, ins Freie zu schauen und stand vor einem See mit sandigem Ufer. Kleine Büsche und Bäume umstanden ihn und zogen in einer optischen Täuschung, zu einem endlosen Horizont. Vorsichtig setzte er seinen Fuß auf das vor ihm liegende Grün, das am Sandstrand endete. Es war Gras. Richtig lebendes Gras.
Er erreichte das Wasser. Vor ihm lag eine tiefblaue kristallklare Fläche, deren Oberfläche leicht kräuselte. Ein sanfter Luftzug, lauwarm, strich darüber. Er tauchte einen Fuß in das Nass, das eine angenehme Temperatur aufwies. Im fast gleichen Augenblick wurden seine Glieder schwer. Genauso, wie zu Zeiten, als er den Zaubersaft getrunken hatte. Die Erschöpfung begann im Kopf, der keine Abwehrmöglichkeiten kannte. Er fiel ins Gras und sein Verstand glitt weg.
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