„Komm‘. Ich zeig dir etwas.“ Er zog sie am Arm quer durch das Gewölbe zu einer weiteren Nische. „Hier und meine Träume“, er sah sie abwartend an, gespannt auf ihre Reaktion.
Vom Eingang aus sah Britta auf die große Holzplatte, auf der Hunderte Dokumente lagen. Teils alt, teils neu. Sogar ein Notebook stand dort.
„Haben Deine Verwandten einen Weg gefunden, Energie aus der Luft zu beziehen?“, versuchte sie zu scherzen. Dabei war ihr, nicht wohl zumute.
„Du meinst den Computer. Die Batterien lade ich im Haus und bring‘ immer genügend mit, um ein paar Stunden zu arbeiten. Du wirst erstaunt sein. Hier lagert die Geschichte meiner Familie.“
„Was tun wir jetzt? Raus gehen und nicht mehr darüber reden? Das kann es doch nicht sein.“ Kopfschüttelnd sah sie Martin an.
„Ich hab‘ die Hoffnung, dass ich dies alles mit dir teilen kann. Wir müssen darüber reden.“
„Hoffentlich ist deine Hoffnung nicht zu groß. Ich habe Angst. Es ist ganz anders, als wenn ich in Venedig oder Verona Geschichte in mich hinein ziehe.“
„In diesem Raum lebte Hermann - zeitweise. Er war der eigentliche Begründer unseres Dorfes. Auch, wenn es erst später in die Urkunden eingetragen wurde, hatte er die Besiedlung eingeleitet.“
„Woher hast du diese Informationen. Doch wohl nicht aus deinen Träumen?“
„Nicht nur. Ich bereite die Dokumente auf, soweit mir das möglich ist. Du solltest vielleicht einmal lesen, was ich schon herausgefunden habe.“ Er sah sie abwartend an.
Aber Britta tat es achselzuckend ab. Martins Welt wuchs ihr über den Kopf. Sie schaute sich um. Jetzt erst fiel es ihr auf. Trotz der trockenen Luft in der Höhle konnte sie kein Staubkorn ausmachen.
„Weißt du woran ich gerade gedacht habe Martin? Ich muss auch schon eine Macke haben. Hier liegt nirgendwo Staub. Hast du vielleicht eine Putzfrau beschäftigt, die dir die Höhle saugt?“
„Staub sagst du. Nein. Ist mir noch nicht aufgefallen. Aber, jetzt da du es sagst, muss ich mir Gedanken machen.“ Britta musterte und befühlte die Sachen auf dem Bord.
„Hermann heißt der Untote. Und er ist einer deiner Vorfahren. Weißt du noch mehr?“ Sie kam wieder zum Thema zurück.
„Sicherlich. Er lebte um die Zeit Karl des Großen und hat diese Kate gebaut. Zu ihm gibt es zwei Geschichten. Die eine erzählt, dass er im Krieg gegen die Sachsen kämpfte und später aufgrund dessen, der General genannt wurde. Die andere besagt, dass er bei einem Einfall der Söldner Karls des Großen in das Dorf kam, um dort Soldaten zu pressen - die Bewohner in einen Berg geführt und versteckt habe. Der Berg wird wahrscheinlich diese Höhle hier unter dem Hügel sein. Wenn Du länger hier lebst, werden Dir auch die Sagen und geschichtlichen Überlieferungen bekannt. Ihn hat es tatsächlich gegeben.“
„War das ein Heiratsantrag? – Ach lass es. Und er trug seinen Stein, wie du es tust?“
„Ja.“
„Jetzt tue doch nicht so wortkarg. Du kannst dir sicherlich vorstellen, dass ich darauf brenne, weitere Informationen zu erhalten. Es ist alles so geheimnisvoll und unwahrscheinlich. Ich fahre schon voll darauf ab.“
„Wie gesagt … lies dir durch, was hier liegt.“
„Vielleicht tue ich das mal. Lass‘ uns noch einmal zu Hermanns Grab …“, sie schlug die Hände vor den Mund, „… wie pietätlos von mir. Grab kann man wohl nicht sagen. Auf jeden Fall möchte ich dort noch einmal hin.“
Britta sah mit einem mulmigen Gefühl auf Hermann hinunter. Eine steile Falte erschien über ihrer Nasenwurzel. Sie kaute auf ihrer Unterlippe. Britta kniete nieder und fuhr sachte über das Fell, das ihn zudeckte. Langsam realisierte sie, dass sie nicht in einem Traum, sondern in der realen Welt lebte, die so irreal war, wie es sich kein Mensch vorstellen konnte.
„Da ist noch eine Sache, die mir unlogisch erscheint, sofern in der Situation, in der wir uns befinden, Logik angebracht ist. Ich muss wieder auf den Stein zurückkommen und auf dieses Wesen, das du Hein nennst. Weshalb sind alle Personen in der Zeit so unauffällig. Auch du bist vollkommen normal, und soweit ich das in der kurzen Zeit unserer Bekanntschaft beurteilen kann, kein Anwärter auf den Nobelpreis. Auch deine gesellschaftliche Stellung ist vollkommen normal. Wenn ich das alles so höre, müsste deine Familie in all den Generationen doch den Überflug gemacht haben?“
Martin schloss die Augen und versuchte seine Gedanken zu ordnen.
„Das habe ich mich auch schon oft gefragt. Vielleicht hatten sie kein Interesse an einem Überflug. Geld haben sie genug gescheffelt. Mehr als ich ausgeben kann. Ich kann mich nur wiederholen, Britta, wenn wir nachher diese Höhle verlassen haben, ist die Erinnerung beschränkt. Es ist sowieso merkwürdig, dich jetzt und heute in dieser Höhle zu wissen. Soweit mir bekannt ist, sind noch nie weitere Personen, außer unserer Familie, in dieser Höhle gewesen.“
„Welche große Ehre für mich. Aber dennoch bekomme ich langsam Hunger. Wir sollten etwas essen. Aber bevor wir gehen, noch einige Antworten. Sind alle Nischen belegt oder nur diese eine? Wie viele Aushöhlungen gibt es überhaupt?“
„Ich weiß es nicht, aber in einigen liegen weitere Vorfahren von mir.“
„Das kann doch nicht wahr sein. Und diese Quasileichen sind dir auch bekannt?“
„Ja.“
„Mein Gott. Sei doch nicht so wortkarg.“
„Ich bin erstaunt über deine Schlussfolgerungen. Ich habe lange dazu gebraucht, Nischen, Personen zuzuordnen. Für dich ist das von vornherein selbstverständlich.“
Britta stand auf und ging in die große Höhle zurück. Wieder war sie überwältigt von den immensen Ausmaßen und den Geheimnissen. Auch das fröstelnde ehrfurchtsvolle Kribbeln auf ihrer Haut hielt an.
„Allein die Möbel, die hier herumstehen, sind ein Vermögen wert. Hier muss ich noch einmal in Ruhe hinein. Lass uns essen gehen.“
*
Kapitel 18 40 000 v. Chr.
Während Argets Wanderung zum heimischen Stamm zog mit jedem Schritt das Gefühl einer Gefahr auf. Sie näherten sich dem Übergang an der Wurm, da brach plötzlich eine Horde wild aussehender Gesellen aus dem Gebüsch. Sie stürzten sich auf Arget und Byrda. Schnell waren sie überwältigt und wurden von dem Trupp in Schach gehalten. In die Mitte genommen, stolperten sie einen halben Tagesmarsch durch den Wald, bis sie auf eine Lichtung gelangten, die die Bande wohl als Basislager nutzte. Mehrere Männer lümmelten auf dem Boden herum und etwas abseits wurden Gefangene bewacht. Frauen und Mädchen, wie Arget und Byrda ausmachten.
Mit Knurren machten die Mannen auf sich aufmerksam. Aus der Mitte, der am Boden liegenden Gruppe, stieg eine riesige Gestalt empor. Mit einem bösen Grinsen kam er näher und knurrte Arget an. Dazu machte er die Zeichen „Habe ich dich endlich.“
„Der hat uns noch gefehlt“, sagte Arget zu Byrda. Er verspürte keine Angst. „Von dem habe ich schon gehört. Er überfällt Stämme. Ein Mörder und Räuber.“
„Du kannst sprechen?“, fragte der Riese ihn verblüfft.
„Du doch auch“, gab Arget ebenso verblüfft zurück. „Nur bei dir verwundert es mich.“
„Ich stopf dir gleich dein Maul“, blaffte der Koloss zurück.
„Wer bist du überhaupt? Hast du überhaupt einen Namen oder soll ich dich Mörder nennen?“
„Ich bin Agnat, der Unbesiegbare.“
„Ich habe dich schon einmal besiegt. Du hast ihr doch den Tiger auf den Hals gehetzt“, nickte er zu Byrda hin.
„Du. Mich besiegt? Du Winzling.“ Er machte einen Schritt auf Arget zu.
„Komm nur. Du weißt, wie es dir ergehen wird.“ Arget spürte keine Angst. Er war sicher, dass der Hüne ihm nichts anhaben konnte. Die Gewissheit kam tief von innen heraus.
Leichte Unsicherheit flackerte in Agnats Augen auf.
Читать дальше