Unsicher, wie er sich verhalten sollte, verharrte er neben Byrda, obwohl er sie am liebsten in den Arm genommen hätte.
Das Stammesoberhaupt sprach beschwörende Formeln und nahm schließlich ihrer beider Hände, die er ineinander legte. Er geleitete sie einmal um das Feuer, wobei die Gesellschaft, in ohrenbetäubendes Geschrei ausbrach. Sie sprangen auf und umringten die frisch Vermählten. Arget erhielt viele Schläge auf die Schulter und genoss das Interesse der Gemeinschaft.
Der Führer des Stammes hob in einer gebieterischen Bewegung seinen Arm, worauf sofort Stille einkehrte.
„Arget. Ich habe dir mein weibliches Kindeskind zur Frau gegeben. Damit gehörst du zu uns. Du bist einer der unseren bis zu deinem Lebensende – ebenso eure Kinder und alle weiteren Generationen, die folgen. Jetzt aber sollt ihr eure Geschenke erhalten.“
Mit keinem Wort erwähnte er die Begebenheit am heißen Wasser.
Die frisch Vermählten bekamen Dinge für den täglichen Gebrauch, die alle einen Sinn hatten. Die anschließende ausgelassene Feier dauerte bis in die frühen Morgenstunden.
*
Schnell, zu schnell nahte der Abreisetermin. An einem frühen diesigen Herbstmorgen nahte der Abschied aus Argets lieb gewonnenem neuen Leben. Auch, wenn er sich nach Hause sehnte, wäre er jetzt, zwiespältig, wie er war, gerne geblieben.
Er und seine Gefährtin Byrda waren auf dem Weg in die Zukunft. Byrdas Stamm gab ihnen viele gute Ratschläge mit auf den Weg und nahm ihnen das Versprechen ab, sich doch wieder einmal sehen zu lassen. Ebenso sprach Arget eine Einladung aus, wobei er bat, dieser doch unbedingt Folge zu leisten. In Zukunft wollte er junge Menschen seines Stammes auf die gleiche Reise zu schicken, die er gerade im Begriff war, zu beenden. Gestern noch hatte er mit dem greisen Führer der Gemeinschaft, die gegenseitigen Versprechen mit Zaubergesängen besiegelt.
Zügig schritten sie aus und machten, gegen Mittag, an einem Bachlauf Rast. Häufige verliebte Aufenthalte verzögerten die Rückkehr beträchtlich. Schließlich erreichten sie den Teil der Landschaft, der Arget bekannt war. Der Lauf seines Flusses lag vor ihnen.
*
Martin lebte im ältesten Haus des Dorfes, dem man die unterschiedlichen Baustile der vergangenen Jahrhunderte deutlich ansah. Die ineinander verschachtelt angebauten Gebäudeteile zeugten allesamt von, mit teils von der Witterung dunkel gewordenen und teils, in neuen Bauabschnitten, hellen Feldbrandsteinen gebaut, Generationen andauernder Bautätigkeit. Die Besitzer des Gebäudes hatten in den Jahrhunderten, ihre Vorstellungen verwirklicht. Aus einem Anbau ragte ein kleiner runder Turm. Gegenüber zog sich die linke Dachhälfte fast bis auf den Boden herunter. An der Vorderseite des Hauses wurden die Fenster und die große Eingangstüre von kunstvollen Backsteinornamenten umrahmt. Mit dem Dachgeschoss ragte das Gebäude drei Stockwerke hoch und bot aus der Mansarde einen Überblick über das gesamte Dorf.
Am Ende des Grundstücks erhob sich ein großer Hügel, mehr eine aufgesetzte Kuppel, mit erstaunlich glattem gewölbtem Hang, auf dem karges Gras um Halt kämpfte. Fast kreisrund um die Erhebung herum verlief ein ungefähr dreißig Meter breiter Sandstreifen, der unglaublich deplatziert in der Gegend wirkte. Auf dem Sand klebte ein uraltes kleines Gebäude gegen den Hügel. Das Haus war – wie alles auf seinem Grund - aus Backsteinen errichtet, und schimmerte zwischen uralten Birken hervor. Verwitterte schwarze Balken durchzogen das Mauerwerk. Die Zeit hatte das ihre getan und es schief in die Erhebung gezogen. Fast tiefschwarze Tonschindeln reihten sich zum Schutz über das kleine Gebäude aus dem Hügel heraus. Es hatte viele Jahre mehr auf dem Buckel, als das Wohnhaus.
Am Rande des Sandzirkels, in gerader Linie von der Kate, sprudelte eine kleine Quelle, deren Wasser in schlängelnden Bewegungen durch ein Bachbett, in Richtung des Heidegebietes floss. Das plätschernde Nass erzählte die ewig alte und neue Geschichte der Bewegung und des Kreislaufs, der immer wiederkehrenden Erneuerung. Die Quelle und das Bachbett waren mit alten, fast blau gebrannten, Feldbrandsteinen gefasst. Viele Jahrzehnte, vielleicht auch Jahrhunderte des fließenden Wassers hatten den Stein glatt werden lassen. Uralte Birken umstanden den Ort und gaben ihm ein mystisches, fast heidnisches Gepräge. Vom Ursprung der Quelle führte ein Weg in Richtung des Dorfes. Rechts und links wurde er von sehr alten Rosen- und Beerenhecken gesäumt.
Schon seit Jahren wurde Martin durch tief sitzende Ruhelosigkeit in das Backsteinhäuschen am Hügel getrieben. Der tägliche Besuch hier wurde ein Bestandteil seines Lebens. Die roh gezimmerte Türe des Gartenhauses - das Holz war so dunkel wie das der Balken – ließ sich nicht verschließen. Die Notwendigkeit bestand auch nicht. Niemand wagte sich in das Innere des Gebäudes. Eine unsichtbare Schranke hielt Besucher ab – selbst im einundzwanzigsten Jahrhundert.
Die Kate war sein Schrein. Hier lagen die Schnittpunkte der Elemente, die genau an dieser Stelle einen Energieknoten über das Haus legten. Wie auch jetzt konnte er den Ruf des alten Gebäudes nicht ignorieren.
Er betrat das im Halbdunkel liegende Zimmer. Kleine Fenster, eher Luken, ließen einige Sonnenstrahlen herein, in deren Licht winzige Staubkörner tanzten. Die Möblierung bestand aus dem grob gefertigten Tisch und ebensolchen Stühlen sowie der Bank. Gegenüber dem Eingang lag die alte Herdstelle, deren breiter Kamin durch das Dach brach. Der Rauchabzug wurde nach oben breiter, weil er gegen die sanfte Rundung der Naturwand des Hügels gemauert war. Im Raum fanden sich Gebrauchsspuren aus den Jahrhunderten. Der Fußboden war – wie sollte es anders sein - aus den gleichen Feldbrandsteinen, wie das Haus gefertigt. Martin tat einen Schritt in die Vergangenheit, als er die Schwelle überschritt. Uralte Felle, teils von Tieren, die er nicht zuordnen konnte, vermittelten Behaglichkeit.
Zielsicher fasste seine Hand auf das Bord neben dem Kamin und nahm eine Petroleumlampe herunter. Gekonnt entzündete er den Docht und sogleich flackerte dumpfe Helligkeit durch den Raum. Ebenso schnell und routiniert entzündete er das Holz in der Herdstelle. Das Feuer verdrängte flackernd das Dämmerlicht und die Kühle des Raumes.
Martin zog einen Stuhl heran und ließ sich geruhsam darauf nieder. Vorsichtig, mit zitternden Fingern, zerriss er das Papier und hielt einen kleinen Schmuckkarton in der Hand. Die Postbotin hatte vor einer halben Stunde das Päckchen gebracht. Trotz des Wissens, was das kleine Behältnis enthielt, zögerte er den Augenblick des Öffnens hinaus.
Martin spürte bekannte Empfindungen. Kribbeln in den Händen, Pulsieren im Körper und wunderbare Ruhe seines Verstandes. Genau in diesem Moment wurde ihm bewusst, wie abhängig er von dem Stein war.
„Nicht irdisch?“, fragten seine Gedanken voller Unverständnis und suchten eine Erklärung. „Kam denn nicht alles aus dem Weltraum? Aus den Sternennebeln? Aus dem Urknall? Wieso konnte der Stein weniger irdisch sein, als all die anderen Dinge, die ihn umgaben?“ Er öffnete den Deckel und der Kiesel lag schwarz, matt und unscheinbar vor ihm. Martin hielt den schönsten Edelstein, ein Familienmitglied, in den Händen.
Sanft pulsierte das Mineral im Einklang mit seinen Empfindungen.
Und da war sie wieder … die Berührung seines Geistes. Sanft, fast tastend huschten Wahrnehmungen durch die Nervenbahnen. Gedanken, die nicht fassbar waren … als wolle ihm jemand etwas mitteilen. Konnte der Stein der Sender einer außerirdischen Macht sein? War es möglich?
Vor ungefähr drei Jahren spürte Martin die Berührung in seinen Gedanken erstmals - hier in der Kate. Damals wachte er aus tiefem Schlaf auf. Er hatte die Illusion einer Person. Der Name oder Begriff, Hein, spukte durch seinen Kopf und ließ ihn nicht mehr los.
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