Er wurde zur Lagerstatt des Jagdtrupps eingeladen. Sie nahmen ihn in die Mitte und trotteten, ein hohes Tempo anschlagend, wie ein Wolfsrudel durch den Wald. Dabei entstanden keine zusätzlichen Geräusche. Der dicke Waldboden dämpfte den Stoß der auftreffenden Füße und der Wind im Blätterwald übertönte ein eventuelles Streifen von Ästen oder Sträuchern.
Unerwartet stoppte der Trupp. Sie hatten den Aufenthalt der Jäger erreicht. Nichts deutete darauf hin, dass dieser Fleck Erde von Menschen besiedelt wurde. Zumindest Arget machte keine Veränderung in der Umgebung aus.
Einer der Fremden pfiff einen kurzen Vogellaut. Aus dem Nichts umringten sie lachende Menschen. Neugierig lauschten sie ihren Jägern, die mit vielen Gesten, Argets Anwesenheit erklärten. Ohne viel Aufheben wurde er in die Mitte genommen. Die anfängliche Furcht vor dem Wolf legte sich schnell und seine Anwesenheit wurde akzeptiert.
Arget betrat eine neue, ihm unbekannte, Welt. Seine Gastgeber nutzten den Wald für ihre Unterkünfte. Teils an den Bäumen befestigt, teils mit geschlagenen Stämmen gestützt, schützten viele, untereinander verbundene, Felle vor dem Wetter von oben. Seitlich reichten die Fellwände bis auf den Boden und wurden von Holzpflöcken gehalten.
Tief hängende Äste, Sträucher und Gebüsch waren kunstfertig miteinander verflochten und bildeten, mit der kuppelartigen Wölbung, ein natürliches Dach, als Schutz vor Regen. Außerdem verbargen sie, dem unwissenden Beobachter, die Unterkünfte, der hier lebenden Menschen. Arget machte circa dreißig dieser seltsamen Höhlen aus. Also, ein großer Stamm, der hier lebte.
Der Trupp geleitete ihn zum Versammlungsplatz, der ihm nicht aufgefallen war. Erstaunt blickte er sich um. Ebenso, wie in seiner Versammlungshöhle, betrieben die Menschen des Waldes, in ihrer Waldhöhle, ein Herdfeuer im Zentrum. Aber, das war dann schon die Gemeinsamkeit.
Riesig spannten sich Felllagen zwischen den Bäumen und schafften für viele Personen Platz. In der Mitte sah er die Wölbung des Dachs, die er schon bei den kleineren Unterkünften von außen ausgemacht hatte. Sicherlich, damit das Regenwasser ablaufen konnte, um dann an den Seitenwänden abzulaufen. Dünne Stämme fügten eine kunstvolle Konstruktion und verhinderten, dass das schwere Dach durchhing.
An keiner Stelle des großen Raumes hätte er mit ausgestreckten Händen die Decke erreichen können. Um das Herdfeuer herum waren steingefasste Feuerstellen auszumachen, die bei kalten Temperaturen für angenehme Wärme sorgten. Rund um den Innenraum sorgten Erdaufwürfe und Felle dafür, dass kein Wind von außerhalb, die anheimelnde Atmosphäre stören konnte. An der Decke herunter hingen eine Vielzahl getrockneter Kräuter sowie allerlei Holzgefäße.
Ein angenehmer Geruch von gebratenem Fleisch stieg ihm in die Nase und ließ das Wasser im Mund zusammenlaufen.
Die Menschen versammelten sich erwartungsvoll und harrten dem, was auf sie zukommen sollte.
Überwältigt von den neuen Eindrücken, nahm Arget sich Zeit, die Personen zu mustern, soweit es das herrschende Dämmerlicht zuließ. Sie waren ein wenig anders gebaut, als er und seine Stammesgenossen. Schon als er mit dem Jagdtrupp auf dem Weg zu dieser Versammlungsstätte war, fiel ihm auf, dass die Bewegungen viel geschmeidiger und fließender waren, als er es bisher beobachten konnte. Ihre Körperhaltung war gerader und die Schultern drückten sich nicht nach vorne, so wie bei ihm und seinen Stammesgenossen. In den Gesichtszügen machte er kleine Veränderungen aus. Die Stirn lag nicht so fliehend an den Köpfen und dort, wo er durch zwei Löcher atmete, war ein kleiner herausstehender Wulst. Unter den Lippen schwang, in einem sanften Bogen, ein Knochen, den es in seinem Gesicht nicht gab. Seine Gedanken kannten den Begriff dafür: Kinn. Arget musste alle Kraft aufbieten, um nicht vor dieser Erkenntnis, zu kollabieren. Das Wissen war bisher in seinem Kopf und er hatte kein Vergleichsäquivalent. Doch jetzt, in dieser Situation, empfand er Furcht.
Der Anführer oder auch Zauberer des Stammes - so genau wusste er dies noch nicht – geleitete ihn zum Herdfeuer und wies ihm einen Sitzplatz zu.
Er bemerkte Getuschel, als sich der Wolf, wie selbstverständlich, zu seinen Füßen niederließ und lang hinstreckte.
Der Anführer war ein schlanker Mann und bedeckte mit seinem Kleidungsfell, anders als er, den gesamten Körper. Ein Detail, das ihm erst in diesem Moment auffiel.
Nachdem die rituelle Trinkschale herumgereicht war, richtete der Anführer das Wort an ihn.
„Was führt dich zu uns, Fremder?“
Erschrocken und gleichzeitig freudig erregt nahm er zur Kenntnis, dass sein Gegenüber Worte und Sätze gebrauchte und nicht die üblichen Knurrlaute und Gebärden. Die gleichen Worte, die er, in vielen Träumen, zu seiner eigenen Sprache, in seinen Gedanken, gemacht hatte.
„Ich hatte einen Traum“, antwortete er schwerfällig, weil er bisher noch keine Gelegenheit hatte, seine Sprachfähigkeiten zu demonstrieren. „In diesem Traum wurde ich aufgefordert, eine lange Wanderung zu unternehmen. Weshalb ich diese Reise unternommen habe, weiß ich nicht. Ein Drang in mir zwang mich dazu.“
„Träume sind ein wichtiger Bestandteil des Lebens. Sie vertrauen dir die Geheimnisse des Lebens an. Woher kommst du?“
„Viele Tagesreisen von dort“, er deutete in südliche Richtung. „Wie mir scheint, aus einem ganz anderen Leben. Wir sind Fischer und leben in Höhlen. Unser Land hat weniger Wald und viel mehr Wasser auf der Oberfläche. Das Land ist karger und der Wildreichtum nicht so groß, wie hier. Für einen kleinen Stamm, wie den meinen, reicht es.“
Sein Gegenüber war ein uralter Mensch. Er hatte ein ansprechendes von tiefen Furchen durchzogenes Gesicht und dunkle Augen schauten sinnend auf Arget.
„Wir haben wenige Gäste in unserer Lagerstatt und seit Generationen ist auch niemand auf die große Reise gegangen. Deine Ankunft hier muss eine besondere Bedeutung haben. Vor allem, weil die Geister der Traumwelt zu dir gesprochen haben.“
„Die Geister der Traumwelt sprechen häufig zu mir. Ich sehe große Veränderung in der Welt und den Menschen, die auf ihr leben“, vollkommen entspannt lehnte Arget gegen ein Fell und ließ den Genuss der Unterhaltung mit Worten und Sätzen auf sich einwirken. „Viele Dinge verstehe ich zunächst nicht und muss sie dann mehrmals träumen.“
Gebannt lauschten die Anwesenden der Unterhaltung und hingen an seinen Lippen.
„Du bist ein mächtiger Mann, wenn dich die Geister der Träume so häufig segnen.“ Der Greis verbeugte sich vor ihm.
Abwehrend hob Arget seine Hände. Er hatte noch nie einen solch alten Menschen gesehen.
„Nein, nein. Ich bin nichts Besonderes. Ich bin der Zauberer eines kleinen Stammes. Bei dir leben mehr Menschen, als ich jemals in meinem Leben gesehen habe.“
„Du musst einen mächtigen Zauber haben. Die Bedeutung deiner Reise kann ich im Moment auch nicht nachvollziehen. Aber die Große Mutter wird dir den richtigen Weg weisen.“ Der Alte schloss die Augen und wiegte leicht seinen Oberkörper hin und her. Ein entrückter Ausdruck trat in sein Gesicht. „Auch ich hatte vor wenigen Tagen einen Traum. Ich sah einen Fremden, der unseren Stamm besuchte und in Gastfreundschaft aufgenommen wurde. Aber ebenfalls wie bei dir, wurde mir der Grund der Reise nicht klar. Doch jetzt genug der Worte. Wir wollen uns stärken.“
Ein geheimes Zeichen, das Arget entging, sorgte dafür, dass ihm plötzlich heiße Bratenstücke gereicht wurden. Es war Wildschweinfleisch, soviel konnte er sofort sehen – dennoch schmeckte es ganz anders als zu Hause. Unbekannte Gewürze zergingen auf der Zunge und im Gaumen. Sie hinterließen unbekannten Wohlgeschmack.
Während des Essens hatte Arget Zeit, sich weiter umzusehen. Besonders interessierte er sich für die Frauen. In seiner Lagerstatt hatte er zu keinem Zeitpunkt hinter den Mädchen und Frauen hergesehen. Nichts zog ihn bisher zum anderen Geschlecht. Hier in der seltsamen Atmosphäre der Fellhütte und den vielen fremden Gerüchen verspürte er eine Zuneigung zu allen weiblichen Menschen, die ihm bisher fremd war.
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