Nicht nur die Hand vor Peters Mund hinderte ihn am Atmen. Der Körper über ihm lastete schwer auf seinem Rücken. Ein paar Soldaten, Volkspolizisten und zwei Männer in Zivil traten in den Lichtkegel. Der Ostwind trieb Befehle über den Sand zur Mole. Peter kämpfte mit dem Körper über sich und gegen die Hand, die ihm den Mund zuhielt. Noch konnte er die Gesichter der Männer in Zivil nicht erkennen.
„Ich lass los“, flüsterte der Körper in sein Ohr, „und ich nehm die Hand weg. Aber beweg dich nicht! Sei ganz still.“
Peter lag ruhig da.
„Sei ganz still, sonst werden wir verhaftet oder sind tot!“
Peter lag ruhig da.
„Hast du mich verstanden?“
Peter lag ruhig unter dem Körper. „Hast du mich verstanden, soll ich dich loslassen?“
Peter nickte. Langsam verschwand der Druck von seinem Körper, dann die Hand von seinem Mund. Der Mann über ihm drehte sich auf den Rücken und keuchte leise. Peter erkannte einen der Männer in Zivil. Er wollte etwas sagen, doch der Mann im Sand neben ihm hielt den Zeigerfinger vor seine gespitzten Lippen und zeigte stumm auf das Geschehen.
Der Getroffene wurde auf die Ladefläche eines Truppentransporters geworfen. Zwei Soldaten gossen eimerweise Wasser über die Blutlache und schaufelten Sand auf die Stellen. Der Strand trug Trauer. Die beiden Piepers bekamen Schlagstockhiebe in die Mägen und auf die Hinterköpfe, fielen zu Boden, wurden über den Sand geschleift und zum Toten auf den Transporter geworfen. Das Schlauchboot verschwand mit der restlichen Ausrüstung auf dem hinteren Wagen. Sie arbeiteten schnell und leise. Drei Soldaten gingen mit riesigen Reisigbesen rückwärts über den Schauplatz und fegten die letzen Spuren aus dem Sand. Sie arbeiteten gründlich. Die Scheinwerfer erloschen. Zweitakter und Lkw-Motoren sprangen an. Die ersten Meter fuhren sie noch ohne, dann mit Licht. Peter blieb auf dem Bauch liegen. Er spürte die Kälte erneut in sich aufsteigen. Er zitterte. Der Mann neben ihm kniete sich auf und seufzte. Beide atmeten schwer.
„Hallo!“ Er reichte Peter seine Hand. „Mein Name ist Siegfried“, sagte er mit Berliner Akzent. „Tut mir leid, dass ich so grob war.“
„Peter!“ Peter drückte sich auch auf seine Knie. „Was war denn das?“
„Na, das war ein Beispiel dafür, wie von Russland versklavte Deutsche, die Meuchelmörder Russlands, mit uns umgehen! Du hast Glück gehabt, Peter.“
Das Zittern erfasste Peters ganzen Körper.
„Danke“, stotterte er leise.
„Ist gut. Wir Deutschen müssen zusammenhalten.“
„Aber ...“
„Wir werden unterdrückt und gedemütigt. Das hat kein Deutscher verdient. Woher kommst du, Peter?“
„Aus Krähenstein.“
„Das ist ja gleich um die Ecke. Soll ich dich hinfahren?“
Peter zögerte einen Augenblick. „Ja, danke, ist nett von dir.“
„Was hast du hier gemacht?“ Siegfried half Peter auf die Beine.
„Na, ich wollte rübermachen!“
„Nein, nicht doch. Wir müssen hier kämpfen! Jeder der rübermacht, schwächt uns. Woher hast du gewusst, dass die hier abhauen wollten?“
„Ich habe es gehört.“
„Wer hat es dir erzählt?“
„Von ...“ Peter stutzte. „Weiß nicht mehr. Irgendwo auf der Straße. Ich dachte, wenn das wirklich stimmt, ist das eine Möglichkeit für mich.“
„Wir können nichts ändern, wenn wir rübermachen. Wir müssen hier etwas ändern. Wir sind Deutsche! Wir dürfen uns das nicht gefallen lassen. Hörst du?“
„Ich weiß nicht, was du damit meinst.“
„Wir dürfen uns nicht von den Russen und ihren Sklaven rumkommandieren lassen. Wir müssen aufstehen und uns Deutschland zurückholen.“ Siegfried half Peter von der Mole. „Wenn du willst, kannste mich ja mal besuchen. Wir haben immer Platz für einen jungen Deutschen.“
„Ja, mal sehn. Kannst mir ja deine Adresse geben.“
Siegfried trug eine Westjeans und echte Lederboots. Von seinem alten Bundeswehrparka war die Deutschlandfahne abgetrennt.
„Ich bin öfter in der Gegend. Wir machen einen Club auf, hier ganz in der Nähe!“
„Und was hast du hier gemacht?“
Sie stapften durch den Sand. Peter hielt seinen Kopf gesenkt.
„Ich habe Kameraden besucht. Als ich zurück nach Hause wollte, habe ich die Lastwagen gesehen, und wollte sehen was die machen. Dann kamen die armen Säue auch schon. Dich habe ich zwischen den Steinen kauern sehen.“
„Ich ... Ich ... Danke ...“ Peter schaute auf.
Als sie über den Deich waren, sahen sie den dunklen Moskwitsch im Schatten der Bäume. Im gleichen Moment gingen seine Scheinwerfer an. Der Wagen rollte an.
„Verdammt“, fluchte Siegfried. „Das ist eine Falle! Lauf!“ Er drehte sich um und sprang durch eine Rosenecke. Sein Parka riss auf und er verfing sich. Siegfried lief weiter, der Parka blieb zurück. Peter starrte in das aufgerissene Futter, dann rannte auch er.
„Stehenbleiben! Oder ich schieße! Hände hoch und auf die Knie!“ Peter erkannte die Stimme. Peter ließ sich auf seine Knie fallen. Feiner Kiesel bohrte sich durch seine Hose. Er spürte warmes Blut an seinen Knien. Harald Hille kam näher. Im Lichtkegel des Wagens glänzte schwarzer Waffenstahl.
„Peter!“ Harald war erstaunt. „Was machst du denn hier?“ Er stolperte, schrie auf und sackte vor Peters Augen zusammen. Ein faustgroßer Stein fiel Peter vor die Füße und aus der linken Schläfe des Schmieds sickerte Blut.
„Lauf“, brüllte Siegfried. Zwei Schüsse zerrissen die windstille Nacht. Peter hetzte durch Büsche hindurch in den Wald. Lief so schnell er konnte. Angespannt, gefasst auf einen weiteren Schrei, auf Licht, auf noch einen Schuss, doch nichts geschah. Er sah, dass Siegfried eine andere Richtung einschlug. Peter wollte nur noch nach Hause.
Seine Lungen brannten und er keuchte, als er durch die Klöntür stürzte. Seine Kleidung klebte an seiner Haut. Ostseesand kratzte in seinem Schritt. Peter wunderte sich, dass das Haus um diese Uhrzeit hell erleuchtet war, war aber erleichtert, zu Hause zu sein. Er wollte einfach in die Wärme. Er wollte ins Bett, sich verstecken. Er wollte diese Nacht vergessen und so tun, als ob nichts gewesen war. Doch es gibt Ereignisse im Leben die unvergessen bleiben und einen immer begleiten werden. Die sich so in der Erinnerung festbrennen, dass sie die unbewusste Grundlage jeglichen Handelns werden.
Peter hoffte, dass alle schlafen würden. Viel zu laut stürzte er in die Diele. Hans saß im Sessel, den Kopf nach links gelehnt, sein Holzbein stand an der Wand. Ein Speichelfaden hing aus seinem Mund. Oben schnarchte Kurt. Peter zog sich seine Stiefel aus und schlich die Dielentreppe hinauf. Die fünfte Stufe von oben überstieg er. Sie knarrte immer. Seine Kleidung warf er unter das Bett. Heimlich wollte er sie waschen, keine Fragen aufkommen lassen. Zitternd lag er unter seiner Decke, zitternd schlief er ein und er zitterte noch immer, als er von Stimmen, die aus der Diele kamen, geweckt wurde. Zitternd stand Peter vor seinem Schrank und zog sich frische Wäsche an. Peter fror von innen heraus. Am liebsten hätte er sich gewaschen, doch dazu hätte er durch die Diele gemusst. Die neue Kleidung konnte den Geruch der letzten Nacht nur schwerlich überdecken.
Der Hahn auf dem Mist krähte und schickte Peter in den neuen Tag.
Mit hängenden Schultern und einer aufgeplatzten Lippen torkelte Peter sockfuß zur Treppe. Ein Lachen. Peter erstarrte auf den oberen Stufen, wollte umdrehen.
„Peter“, erklang die tiefe Stimme von Harald Hille. Kurt und Hans drehten ihre Köpfe.
„Komm runter frühstücken.“ Kurt legte ein Brötchen auf den leeren Teller. Es roch nach Spiegelei.
Peter machte einen vorsichtigen Schritt nach unten. Die fünfte Stufe von oben knarrte. Mit jedem weiteren Schritt wich die Heimat, der Familienschutz aus seiner Seele.
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