der Raumsiedler
Michael Wächter
Die Raumsiedler von Puntirjan, Folge 1
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Texte: © Copyright by Michael Wächter
Umschlag:© Copyright by Michael Wächter
Verlag:Michael Wächter
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Jean keuchte. Sein Pulsschlag hätte einen Presslufthammer übertönen können. Ein Tsunami tiefster Verzweiflung rollte auf ihn zu, tief wie ein bodenloser Ozean. Doch es war keine Zeit ihn wahrzunehmen. Er rannte um sein Leben, hinter Güngör her. Sie flogen fast durch den engen Gang des Kellers.
„Hier lang!“, rief Tüngör ihm zu, und Jean folgte ihm, unfähig nachzudenken. Jean und Tüngör hasteten durch einen Seitengang des Gebäudekellers.
Die Uniformierten waren ihnen dicht auf den Fersen. Security-Leute, Polizisten, Gardisten – eine ganze Meute jagte ihnen hinterher. Schreie zerrissen die Stille. Laufschritte hallten durch den Gang. Türen flogen auf. Sie durchsuchte brüllend das ganze Kellergeschoss, Gang für Gang. Gleich würden sie den Seitengang erreicht haben. Tüngör und Jean hetzten weiter, als Jean eine der Türen wiedererkannte. Er öffnete sie, zog Tüngör zu sich in den dahinter liegenden Lagerraum, und knallte die Tür zu.
„Schnell! Versteck dich dahinter“, schrie Jean. „Sie sind gleich hier“. Er deutete auf ein Regal.
„Was ist mit dir? Du passt da doch nicht mit hin?“, rief Tüngör zurück.
„Ich weiß. Runter!“
Er stieß Tüngör hinter das Regal und griff eine Abdeckplane. „Ich halte sie auf! Ablenken! Dann finden sie dich nicht!“
Tüngör sah noch eine Träne, die Jeans Auge verließ und die Wange hinabrollte, bevor er die Plane über Tüngör schmiss und einen Raumteiler vor das Regal schob.
„Ich tu’s für uns. Grüß Jenis von mir“, stieß Jean noch hervor. Alles sah nun aus, als sei er allein im Raum – Tüngör war nicht mehr zu sehen. Jean drehte sich noch zur Tür um, als sie aufgetreten wurde. Dann ging alles sehr schnell. Jean hatte keine Chance mehr. Der kaiserliche Leibgardist hatte seine Waffe im Anschlag. Er schoss sofort. Ohne Vorwarnung. Jean sackte in sich zusammen, ohne auch nur noch einen Piep von sich geben zu können. Blut sickerte aus seinen Wunden. Er war auf der Stelle tot.
„Mistqualle!“, zischte der Sarkarier wütend und trat gegen die Leiche. Dann bespuckte er sie und verließ den Raum.
Tüngör atmete auf, blieb aber still. Würden die Verfolger wiederkommen? Er blieb unter der Plane im Nebenraum. Der Gardist hatte ihn nicht bemerkt, sonst hätte er ihn gleich miterledigt. Aber er kam nicht zurück.
Tüngör wartete. Er erinnerte sich an ihre Stellenausschreibung. Jean, Jenis und er hatten sich damals als Agenten beworben. „Geheimdiensttätigkeit im Regierungsauftrag“, hatte es geheißen, „zur Abwehr der Bedrohung durch sarkarische Militärs – vom Söldner über Leibgardisten und Provinzgouverneure bis hin zum Generalsstab des Kaisers“. Jean war tot. Güngör fühlte kochend heiße Wut in sich aufsteigen. Wie gern hätte er dafür dem Gardisten, dieser sarkarischen Marionette, noch das Genick gebrochen, hinterrücks mit einem Sprung. Jean hatte sich für ihn geopfert. Er war für ihren Auftrag gestorben, den Datenträger zu retten. Er aber hatte sich dem Sarkarier in den Weg gestellt. Die Sarkarier hätten die Bahndaten der Raumschiffe genutzt, um das größte Projekt aller Zeiten zu sabotieren, das Lebenswerk zahlloser Raumfahrergenerationen, einer ganzen Zivilisation. Jetzt aber hatte Tüngör den Datenträger, und er durfte nicht zulassen, dass er in ihre Hände fiel. Er hatte den Sarkarier verschonen müssen. Er musste in seinem Versteck warten, bis die Luft rein war. Erst dann durfte er wieder in Erscheinung treten. Erst dann konnte er seine Rolle als Sarkodot-Mitarbeiter zu Ende spielen und der Schlangengrube entkommen.
Tüngör nahm den Lift direkt hoch zur Vorstandsetage. Er musste dort sein, noch bevor man den Sicherheitsalarm dorthin melden würde. Er schwitzte. Die Tür des Liftes sprang auf. Jetzt befand er sich in der Höhle des Löwen. Aber er sah sich aber auch dem Ende seines ersten Einsatzes entgegen. Tüngör Auflingé, Agent der I.P.O., war mit sich zufrieden. Erstmals hatte er im Datenzentrum des Feindes operiert, die Geheimdienst-Datei gesichert, auf dem Firmenserver gelöscht und die Kündigung seines Alibi-Jobs provoziert. Und jetzt stand er da, in der Höhle des Löwen.
„Das liest doch kein Schwanz!“
Vorstandschef Sark Sarkermann wütete. Sein Gesicht war puterrot angelaufen, seine Halsschlagader angeschwollen. Mit grenzenloser Verärgerung starrte er auf Tüngör, den Autor der Texte.
„Das liest doch niemand! Das will absolut niemand lesen!“, tobte er. „Wir haben Sie als Sachbearbeiter in der PR doch nicht eingestellt, damit sie derart belanglosen Mist in unsere Konzernwerbung einarbeiten!“
Sarkermann brüllte den jungen Tüngör an, als wolle er ihn zerfleischen. Tüngör aber war Dschersis Enkel: Er konnte stur sein, ebenso kühl und gelassen wie sein Großvater es war. Tüngör wich dem Blick des Löwen nicht aus. Er stand einfach da und schwieg.
Sark Sarkermann fing sich wieder und holte Luft.
„Es tut mir leid, Monsieur Auflingé! Wir werden ihren Text so niemals verwenden. In Anbetracht der vielen, vielen investierten Arbeitszeit, der Gehälter und Materialien sehen wir uns daher leider gezwungen, sie zu kündigen! Sie sind hiermit entlassen!“
Sarkermann warf Tüngörs Speicherchip auf den Schreibtisch, direkt vor Tüngör.
„Sie haben noch Urlaub. Nehmen sie ihn. Sie können direkt nach Hause fliegen. Sofort. Ihre Papiere schicken wir ihnen nach.“
Sarkermann lehnte sich zurück. „Alles Gute!“, fügte er sarkastisch hinzu.
Tüngör nahm den Chip wortlos auf, drehte sich um und verließ den Raum. Hätte Sarkermann sein Gesicht im Rausgehen sehen können, er hätte sich über das verschmitzte Lächeln Tüngörs gewundert. So aber sah er Tüngör Auflingé nur noch die Bürotür passieren. Sein Blick fiel noch auf das Portraitfoto des Kaisers an der Wand neben der Bürotür, doch dann wandte er sich wieder seiner Quantencomputerkonsole zu und rief die nächste Termindatei auf sein Interfunk-Display. Als Gruppenleiter des mächtigen Netzwerk-Konzerns Sarkodot hatte er schließlich Wichtigeres zu tun. Er ahnte nicht, dass er soeben seine letzte Chance vertat, einen der beiden Agenten aufzuhalten, die sein Leben auslöschen würden, eines Tages, und das seines Kaisers.
Als Tüngör Auflingé das Sarkodot-Gebäude verließ, wurde es Abend. Er atmete auf. Die Security hatte den Sicherheitsalarm, vom Keller- und Erdgeschoss immer noch nicht auf die oberen Stockwerke ausgedehnt. Auch die Inszenierung seiner Kündigung war nach Plan verlaufen. Wie leicht es war, die Bahndaten-Datei „Joséfien“ zu finden, auf seinen Chip zu kopieren und auf dem Server der Sarkarier zu vernichten! Selbst die letzten, ungelöschten und für Wiederherstellungsprogramme eventuell noch verwendbaren Datei-Reste hatte er extrahiert – bis auf das letzte Mikrobit. Und das fingierte, für Sarkodot somit nutzlose Textdokument hatte er auch noch hochgeladen, um die Firma mit diesem Kündigungsgrund schnell und unauffällig verlassen zu können. Leider ohne Jean … Jetzt jedoch hielt ihn nichts mehr. Er war erleichtert. Sein Einsatz war vorbei. Die Sarkarier hatten keine Chance mehr, über die Bahndaten-Datei an die I.P.O.-Raumsonden zu kommen und das Großprojekt zu sabotieren.
Zügig, aber nicht auffällig hastig begab sich Tüngör über die Plaza des Sarkodot-Towers hin zur zweiten Seitenstraße. Niemand beachtete ihn. Er landete auf dem Fußweg und zog seine Flügel ein. Er glättete sein Gefieder und ging dann zu Fuß weiter. Erleichtert erreichte er das Innenstadtviertel und tauchte im Gewimmel der City unter. Eigentlich mochte er solche Einsätze nicht. Er war noch jung, manchmal etwas naiv und suchte oft Nähe zu Anderen, die er als Kind nie gehabt hatte. Daher seine Sehnsucht nach Romantik, Natur und Wärme. Dennoch war er gelegentlich auch kühn und sehr pflichtbewusst – ein guter Agent und trotzdem ein insgesamt eigentlich liebenswerter Kerl. Jetzt, da die politischen Spannungen mit den Sarkariern zugenommen hatten, war er als Arbeit suchender Informationstechniker an den Geheimdienst geraten. Also hatte er sich im Auftrag der I.P.O. mit „korrigiertem“ Lebenslauf als Werbetexter bei Sarkodot beworben, um sich dort in das Intranet der Sarkarier zu hacken.
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