Michael Alexander Müller
Aufbruch / Inqilab
Für Jugendliche ab 14 Jahren
FELIX BLOCH ERBEN
Verlag für Bühne, Film und Funk
Inhaltsverzeichnis
Title Page Michael Alexander Müller Aufbruch / Inqilab Für Jugendliche ab 14 Jahren FELIX BLOCH ERBEN Verlag für Bühne, Film und Funk
Personenverzeichnis Personenverzeichnis JARED LUNIS, sein älterer Bruder ESSAM, ihr Vater RAHA YASMIN QUAI MILIZBEAMTER “They tryna lockn---s up, they trying make new slaves// See that’s the privately owned prison, get your piece today.” KANYE WEST
HIER 1 HIER 1 Ein Bahnhof, Lunis mit Gepäck, Yasmin betritt die Vorhalle, blickt sich um, entdeckt Lunis, schaut ihn einen Moment wie eine unwirkliche Erscheinung an. Dann läuft sie auf ihn zu. YASMIN Lunis, endlich! Du bist da! Dein Gesicht, die Hände. Ich wollte dir so viel sagen, hab mir alles zurechtgelegt … LUNIS Was zählt ist, das ich hier bin. YASMIN Sorry, ich hätte dich wirklich gerne abgeholt, aber du wolltest es ja … Müde? LUNIS Nein. YASMIN Und das Visum? LUNIS Yasmin, ich bin dir sehr dankbar. Für alles. YASMIN Hab´ heute Morgen leichte Panik gekriegt, gedacht, na ja, ich weiß auch nicht. LUNIS I am safe! YASMIN Immer, wenn du im Chat warst, wenn du getwittert hast, wenn unser Code kam, du warst so nahe und doch ewig weit weg. Lunis dreht sich nervös um. YASMIN Was ist? LUNIS Nichts. YASMIN Wie fühlst du dich? LUNIS Unwirklich, als ob sich jemand mir in den Weg stellt. YASMIN Wir können zu mir gehen! LUNIS Nein! Ich möchte sie auf neutralem Boden treffen. Wann kommt sie? YASMIN Sie sitzt im Zug, noch eine Stunde etwa. Sie hat mit den Fernsehsendern gesprochen. Und sie hat heute Nacht ein paar wichtige Leute angerufen. LUNIS Wichtige Leute? YASMIN Irgendwen aus der Militärverwaltung, den sie von früher kennt. LUNIS Was! Sie arbeitet mit diesen Dreckschweinen zusammen? YASMIN Mit guten Verbindungen und Einfluss. LUNIS … seit zwei Wochen bin ich … YASMIN … der Mann sitzt vielleicht … LUNIS … und dann kommt sie mit so ‘ner … YASMIN … am einzig richtigen Hebel, den du … LUNIS … Scheißfliege von der Regierung, so einem … YASMIN Lunis! Es geht um Jared, nicht um deine Mutter … Die haben euch mitgeteilt, dass Jared tot ist? LUNIS Ich habe keine Leiche gesehen! Mein Bruder lebt!
DORT 1 DORT 1 JARED (schreibt in seinen Laptop) 12. Januar – Mein Name ist snoe4URResistance. Alles, was ich hier in Zukunft texte und einstelle ist die Wahrheit. Mein Herz soll immer stolz sein und mein Kopf voller klarer Gedanken. Ich möchte nur Helligkeit in mir tragen, auch wenn ich weiß, dass dort genauso viel Wut herrscht. Ich lebe in einem in Zeitlupe sterbenden Land. So hoffnungslos wie jetzt war es noch nie. Mehr als tausend Tote in einem Jahr durch Unterdrückung, Hunger, Gewalt und Korruption. Es braucht nur ein einziges Streichholz und alles wird hier in die Luft fliegen. Zünden wir dieses Streichholz an! Es lebe die Freiheit! (Er löscht es.) Freiheit! Jetzt! Snoe4URResistance.
DORT 2 DORT 2 JARED (wendet sich Lunis zu) Bruder. Was geht? LUNIS Ich hab’ mit Vater den weißen Benz wieder flott gekriegt, läuft einwandfrei. JARED Den vom Bauunternehmer? LUNIS Ja, von Taglit. Wir sind ‘ne Runde um den Block gefahren. Alle haben geglotzt. Das ganze Viertel. Taglit hat das Geld bar auf den Tisch gelegt und gleich einen Lkw auf den Hof stellen lassen, denke, die Kupplung ist Schrott. JARED Bist wie ein Bonze mit dem Benz durchs Viertel gefahren, ja? LUNIS Und? Hast du ein Problem damit? JARED Lunis, denk mal nach! LUNIS Das tut der Herr Student ja schon für mich! JARED Taglit baut die Oststadt auf, schmiert den Bürgermeister und die halbe Stadt dazu. LUNIS Die Leute haben Arbeit durch ihn! JARED Die Leute arbeiten für seinen Benz. LUNIS Es geht um ein stinknormales Auto, nicht um meine Seele. Wenn ich den Benz nicht repariere, tut es ein anderer. JARED Sei nicht so naiv. LUNIS Was ist denn schon dabei? Da hält der eine die Hand auf und da wäscht ein anderer sie in Unschuld. Wir müssen sehen, wie wir durchkommen. JARED Seine Leute bekommen immer weniger, sie hungern! LUNIS Willst du die Armee der Hungernden anführen? Planst du eine Revolution im Internet? Freunde aus aller Welt sind total betroffen, drücken ihre Solidarität aus bla bla, schicken Geld und Armeen! Gewonnen! Nein, Game over! Das nenne ich naiv. JARED Schraub weiter an den Bonzenautos rum. Dein Hirn ist ja schon völlig zugeschraubt! Augen zu! Weitermachen! LUNIS Warum müssen wir uns immer streiten? JARED Weil wir uns lieben, Bruder, weil wir uns lieben.
HIER 2 HIER 2 Yasmin schaut auf ihr Handy. LUNIS Neuigkeiten? YASMIN Sie schicken wieder Panzer. Heute Nacht sind bei den Straßensperren hundert Leute verhaftet worden. LUNIS Beim Abflug gestern Abend habe ich die Rauchsäulen über der Stadt gesehen. Und Jared halten sie da irgendwo … YASMIN Lunis, du hast alles versucht, du hast im Hauptquartier vorgesprochen, du hast die Stadt mit Plakaten vollgepflastert. Jareds Gesicht ist ein Zeichen, seine Seite ist in der ganzen Welt. Wir hatten zweihunderttausend Clicks allein in der letzten Woche. LUNIS Genau deshalb haben sie ihn für tot erklärt. YASMIN Wir schaffen es! Und mit ihren Verbindungen kann sie … LUNIS Wenn sie in den nächsten zwei Tagen nichts erreicht, fliege ich zurück. YASMIN Bist du verrückt! Sie haben dich durch die Straßen gejagt. Sie haben auf dich geschossen. Du kannst nicht zurück. LUNIS Sie wird uns noch einmal enttäuschen. YASMIN Nein. Sie ist eure Mutter. Außerdem hat sie hat auch einen Namen: Esther. LUNIS Du kennst sie nicht. YASMIN Aber du? Du warst acht, als sie euch verlassen hat! Sie sagte, sie kann es kaum erwarten, ihre Söhne wiederzusehen. Sie wüsste nicht mal wie ihr ausseht, hätte ich ihr nicht die Fotos geschickt. LUNIS Sie hatte kein Recht mehr zu hoffen, sie hat unsere Familie in Schande verlassen. YASMIN Lunis, der Krieg wird woanders geführt, nicht hier!
DORT 3 DORT 3 JARED (schreibt in seinen Laptop, ein Milizbeamter tritt auf, setzt sich an seinen Schreibtisch, liest schweigend mit) 25. Januar. Die Menschen reden endlich öffentlich über die Zustände. Demonstrationen haben begonnen. Unser Volk hat die Schnauze voll! Im Versammlungsraum sagte eine Frau: „Alles Leid ist aufgebraucht. Lasst uns losmarschieren!” Der ganze Saal stand auf. Auf dem Weg zum Platz der Rosen schlossen sich immer mehr Menschen an. Sie schrien: „Wir sind der Staub, den ihr von euren golden Tischen fegt, wir sind die Pest vor euren Mauern, wir sind die Knochen, aus denen ihr eure Paläste baut! Jetzt kommen wir! Wir kommen!” Clickt den Livestream an. Spread it all over the world! Kann nicht schlafen, renne in meinem Zimmer rum und singe vor Freude. MILIZ Freiheit? Jetzt? Snoe4URResistance. (notiert sich den Namen, wiederholt) Snoe4URResistance.
DORT 4 DORT 4 Lunis und Essam arbeiten in der Werkstatt, Jared sitzt vor seinem Laptop. LUNIS (zu seinem Vater) Heute haben sie den Platz der Rosen besetzt. ESSAM Wirklich? LUNIS Hast du das Geschrei nicht gehört? ESSAM In den Nachrichten haben sie nichts gezeigt. JARED Die Nachrichten sind ja auch keine Nachrichten. Die Nachrichten bestehen aus Propaganda, Sport und Wettervorhersagen. ESSAM Bist du auch dort gewesen? JARED Sicher! LUNIS Was willst du da? JARED Ihr müsst die Versammlungen erleben! Da diskutieren Menschen miteinander, die sich früher nicht einmal gegrüßt hätten. Die Leute sprechen endlich öffentlich aus, was sonst nur hinter verschlossenen Türen gesagt wird! ESSAM Was sagen sie denn? JARED Wir haben schon zu lange gelitten. Wir haben diese Dreckslügen geglaubt. Wir werden wie Tiere in unserem eigenen Land gehalten. Wir haben lange genug stillgehalten. Unsere Zukunft ist nicht mehr sauer, sie wird süß. LUNIS „Süß“? Unsere Zukunft wird „süß“? Schreibst du jetzt Revolutionsgedichte? ESSAM Und die Milizen? JARED Haben zugesehen. LUNIS Wobei? JARED Wie wir getanzt und gesungen haben. (Jared tanzt und singt.) LUNIS Beim nächsten Mal werden sie zuschlagen. JARED Die Frauen haben ihnen Süßigkeiten geschenkt. LUNIS Frauen? JARED Ja, Frauen! Wir alle müssen uns einmischen. LUNIS Du gehst da nicht mehr hin! Vater, bitte! JARED Ich lass mir nichts verbieten, schon gar nicht von dem. LUNIS Wer finanziert dich denn? Ich stehe jeden Tag in der Werkstatt und er? ESSAM Genug jetzt! Wir essen.
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