1 ...6 7 8 10 11 12 ...17 Mir wurde bewusst, dass ich noch nicht mal wusste, ob Wisteria eine Kugel war wie die Erde oder eine Scheibe. Ja, auch solche Welten gab es. Kugeln und Scheiben, sogar welche mit mehreren Ebenen und diese in allen Größen und in allen erdenklichen Varianten. Die Karte von meiner zukünftigen Welt war eingerollt und in einem Köcher aus leichtem Holz verstaut. Ich nahm sie mit, denn zwischen den Reihen war es mit den nur spärlich beleuchteten Regalbrettern zu dunkel. Die Reihe endete im Hauptgang und jetzt hatte ich auch wieder mehr Licht, also entschied ich, mir die Karte gleich anzusehen.
Ein Stück entfernt stand ein großer Lesetisch. Ich ging drauf zu, schob zwei Stühle beiseite und zog die Karte aus dem Köcher. Sie war relativ groß und furchtbar alt. Ein bisschen hatte ich Angst, sie könnte reißen, doch das Material auf dem sie gezeichnet worden war, schien robuster zu sein, als es aussah. Ich schnappte mir zwei Bücher, die noch auf dem Tisch lagen und benutzte sie als Beschwerung für die oberen Ecken, die unteren hielt ich fest. Ich musste meine Arme fast einen Yard ausbreiten, um annähernd an die Ecken zu kommen, so groß war die Karte, dann erkannte ich den Aufbau von Wisteria.
Es handelte sich tatsächlich um eine Kugel. Die Zeichnung zeigte mehrere kreisrunde Abbildungen. Doch nur auf zweien war jeweils eine Kontinentalfläche zu sehen. Die anderen drei waren einfach blau mit nur winzigen Punkten, die wohl Inseln und Inselgruppen darstellten. In einer wunderbaren Handschrift stand über alle dem „Wisteria Orbis“ . Ich beugte mich hinab, um die Namen der Inseln zu lesen. Die größte Inselgruppe hieß Sahles . Sie umfasste zehn große und unzählige kleine Landmassen und lag dem Hauptkontinent Wisteria am nächsten. Also hieß die Welt wie der Kontinent oder umgekehrt?
Für den Moment war es egal, denn die Namen konnten erfahrungsgemäß variieren. Der Hauptkontinent selbst war eine große Fläche, mit vielen Seen und Flüssen im Westen und Süden und einem großflächigen Gebirge im Norden und Osten. Eine zweite kleinere Landmasse lag weiter nördlich, beide wurden durch ein Meer getrennt, der Sturmsee . Ich ließ den Blick über den Hauptkontinent gleiten und mir fiel auf, dass es nicht viele große Städte gab, zumindest waren nicht viele eingetragen. Zwei Hauptstädte nur. Leviathana und Gorgona . Gruselig. Der Hüter, der diese Karte gezeichnet hatte, hatte die Städte nach Ungeheuern benannt. Da gefiel mir Wisteria von der schönen Pflanze doch besser.
Auch die vielen Seen und Flüsse trugen zumeist Namen von mythologischen Kreaturen. Das war schon irgendwie unerwartet. Ich war davon ausgegangen, dass es mehr botanische Namen geben würde. Allerdings hatte ich eben auch bemerkt, dass viele Hüter ihre eigenen Bezeichnungen verwendeten. Einfach weil sie die Orte und Landschaften damit verknüpften. Der Urheber dieser Karte hatte das sehr wahrscheinlich auch getan. Der Grund für die eigenen Namen war einfach der, dass die Hüter den Kontakt zu Einheimischen mieden und so nicht deren Bezeichnungen verwenden mussten. Sie hatten es sich leicht gemacht. Außerdem schien es eine Eigenart von Hütern zu sein. Wir durften uns sowieso nur in absoluten Notfällen einmischen, warum dann also die gewöhnlichen Namen nutzen?
Die meiste Zeit waren wir nur Beobachter, zeigten uns nicht offensichtlich und gaben uns erst recht nicht als das zu erkennen, was wir waren. Das diente einfach unserem Schutz. Es musste schließlich nicht bekannt werden, dass die Anders-Welten Hüter hatten. Und so gab es zahlreiche Karten mit unterschiedlichen Bezeichnungen. Welche davon nun die Richtigen waren, würde ich wohl nur herausfinden, wenn ich rüberging und dort jemanden fragte. Jedenfalls war diese Karte hier die größte und genaueste, die ich bis jetzt gesehen hatte und sehr wahrscheinlich auch die vollständigste. Ich ließ meinen Blick weiterwandern und versuchte mir alles einzuprägen. Die Landmasse selbst würde sich nicht unterscheiden und so würde ich mich an den natürlichen Anhaltspunkten orientieren können, wenn ich denn mal da war.
„Was tust du?“, fragte eine Stimme hinter mir und ich fuhr erschrocken herum. Dyllan warf einen Blick über meine Schulter und musterte die Karte. „Ist das eine Anders-Welt?“
Ich wandte mich wieder halb zurück. „Ja, meine“, sagte ich und wies auf den Namen.
„Wisteria“, las er und fragte dann: „Du kennst deine Anders-Welt?“
„Ja. Du nicht?“
„Nein.“
„Nicht mal den Namen?“ Ich wusste ja, dass ich meinen Mitschülern voraus war, weil Ava mir verbotenerweise einen Blick durch meine Tür gewährt hatte. Doch dass sie nicht mal die Namen ihrer Welten kannten, war mir neu.
„Nein“, meinte Dyllan und musterte mich. „Wir erfahren ihn erst im dritten Jahr, wenn’s darum geht uns auf die Prüfung einzuschwören. Wieso weißt du von deiner?“
„Na ja, also ...“
Sein Blick wurde fragend.
„Ich hab da eine Freundin, die hat sie mir gezeigt“, gab ich zu.
„Was? Ehrlich? Du kennst auch deinen Vorgänger?“
„Meinen Vorgänger? Nein. Ava ist eine Leprechaun“, erklärte ich verwirrt.
Er schwieg und starrte mich an, dann meinte er: „Eine Leprechaun kann aber kein Hüter sein.“
„Ist sie auch nicht. Sie verwahrt meinen Schlüssel, bis ich bereit bin.“
Er verdrehte die Augen, als er zu verstehen schien, doch dann erstarrte er. „Warte mal. Eine Leprechaun hat deinen Schlüssel? Was ist mit dem derzeitigen Hüter?“
Ich musterte Dyllan, weil ich nicht wusste, wie weit ich ihm trauen konnte. Zwar kannte auch er, meines Wissens nach, den derzeitigen Hüter seiner zukünftigen Welt nicht, aber vielleicht auch doch. Vielleicht wartete dieser nur darauf, einen Schwachpunkt zu finden, um vielleicht sogar meine Anders-Welt anzugreifen. Immerhin führte immer irgendeine Anders-Welt Krieg gegen eine zweite. Sein Blick blieb bei mir, während ich noch immer abzuschätzen versuchte, was ich ihm sagen konnte.
„Deine Welt hat keinen“, stellte er dann selbst fest, doch sein Blick blieb fragend. Mist, es war sicher nicht gut, wenn er das wusste. Doch was sollte ich ihm sagen, warum Ava meinen Schlüssel hatte und damit den einzigen zu Wisteria?
Egal, zu spät. „Nein“, gab ich schließlich leise zu und hatte im Gefühl, dass es falsch war.
„Wow. Deswegen triezen dich die Profs so. Die wollen dich so schnell wie möglich fertig ausbilden. Ich hatte mich schon gefragt warum. Allerdings dachte ich, dein Vorgänger wäre einfach nur alt oder so.“
„Tja, nein. Er ist nicht alt. Genau genommen ist er gar nichts mehr.“
„Was ist denn mit ihm passiert?“
„Ein Autounfall. Ich weiß nichts Genaues. Jedenfalls ist er nicht natürlich gestorben.“
„Oh. Das tut mir leid.“ Dyllan senkte kurz den Kopf, dann sah er mich wieder an. „Wir hatten uns alle schon gefragt, warum du Extrastunden bekommst. Du bist ja immerhin nicht schlecht in den Kursen.“ Er grinste frech.
„Nein, bin ich nicht“, gab ich ihm etwas schnippisch zurück. In Wirklichkeit zählte ich sogar zu den Klassenbesten. Nicht nur durch die vielen Extrastunden.
Er schüttelte belustigt den Kopf. „Darf ich mal sehen?“, fragte er dann und wies auf die Karte. Ich schaute erst auf den Tisch, dann zu ihm. Wieder versuchte ich abzuschätzen, wie viel er wissen sollte.
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