Als sie sich endlich überwand ihn anzusehen, stahl sich wieder ein Lächeln in seine Mundwinkel. „Eifersüchtig?“, fragte er geradeheraus.
„Pff“, gab sie ihm nur zur Antwort. Bevor sie wusste, was geschah, hatte er ihr einen Arm umgelegt und sie zu sich gezogen. Mit der anderen Hand drehte er ihren Kopf so, dass sie ihn ansehen musste, dann küsste er sie. So direkt und liebevoll, wie er es seit ihrem ersten Kuss in Deutschland nicht mehr getan hatte.
Als sie sich voneinander lösten, vergaß Lilly glatt, weiter zu atmen. Nicht, dass sie es hätte tun müssen. Memphis lächelte sie wieder an und diesmal war dieses umwerfende Lächeln nur für sie bestimmt. Lilly erkannte einen Unterschied. So wie er es jetzt tat, tat er es nur für sie, dann ließ er sie los und sie glitt in ihren Sitz zurück.
„Wir haben noch etwas Zeit. Willst du irgendwohin?“, fragte er.
„Ich weiß nicht.“ Dann fiel ihr was ein. „Können wir irgendwo einkaufen gehen?“
Er sah sie nachdenklich an. „Klar. Hast du an was Bestimmtes gedacht?“
„Einfach ein Lebensmittelladen. Du musst auch nicht mitkommen. Ich geh allein rein. Ich weiß nur nicht, wo hier was ist.“
„Ich komme gern mit.“
„Nein. Du gehst Kaffee trinken. Was ich brauche, muss ich allein besorgen.“
Nun sah er verwirrter aus, doch dann hellte sich sein Blick auf. „Okay. Ich hab da auch noch was zu besorgen.“
Er fuhr eine Stadt weiter und hielt auf dem Parkplatz eines kleinen Supermarktes. „Ist das okay?“, wollte er wissen.
„Perfekt.“
„Gut. Wir treffen uns wieder hier.“
„Geht klar.“ Lilly verließ das Auto und steuerte auf den Markt zu. Ein Blick zurück zeigte ihr, dass Memphis sie beobachtete. Ein Lächeln flog ihr übers Gesicht. Dann wandte auch er sich ab und ging Richtung Innenstadt davon. Während sie ihre Besorgungen machte, überlegte Lilly, was er zu tun haben könnte. Zurück am Auto musste sie dann nur kurz warten. Er kam wenige Minuten später und hatte zwei Eistüten in der Hand, von denen er ihr eine reichte.
„Wolltest du das erledigen?“, fragte sie und nahm das Eis.
„Nein. Aber der Eismann lag auf dem Weg.“
„Praktisch, danke“, sagte sie und warf ihm einen Luftkuss zu, den er mit einem Grinsen quittierte. Sie verstaute ihren Einkauf im Auto und stieg ein. Memphis folgte ihr einen Moment später. Sein Blick hatte sich verändert. Er schaute jetzt argwöhnisch drein und das Lächeln war verschwunden.
„Ist alles okay?“, fragte Lilly vorsichtig.
Er antwortete nicht, sondern starrte nur stirnrunzelnd in Richtung einer kleinen Baumgruppe, unweit des Supermarktes. Lilly folgte seinem Blick. „Was ist da? Memphis, ist alles klar?“
Abwesend wandte er den Kopf zu ihr und schaute sie fragend an. „Entschuldige, was?“
„Ob alles in Ordnung ist? Was war denn da?“
„Ja, alles okay“, entgegnete er ihr abwesend. „Ich dachte nur, ich hätte jemanden gesehen. Ich hab mich wohl verguckt.“
Lilly musterte ihn. Irgendwas war komisch. Memphis war immer aufmerksam, doch jetzt sah er aus, als hätte er einen Geist gesehen.
Er fing sich wieder einigermaßen und ließ das Auto an. „Hast du alles, was du brauchst? Können wir nach Hause fahren?“
„Ja“, antwortete Lilly knapp, immer noch verwirrt über seinen plötzlichen Stimmungsumschwung.
Zurück im Haus achtete sie darauf, dass er ihr nicht in die Küche folgte, wo sie ihre Einkäufe verstauen wollte. Doch sie hätte sich nicht allzu große Mühe geben brauchen. Er hatte die ganze Fahrt über abwesend gewirkt und das setzte sich auch hier fort. Während sie in die Küche ging, brachte er die Kühlbox in den Keller, wo sie einen extra Kühlschrank für solche Sachen hatten.
In der Küche war Mrs Thomas bei der Vorbereitung für das Mittagessen. Lilly und Memphis waren früh aufgebrochen und so auch früher als gedacht wieder zu Hause. Mrs Thomas half ihr, die Sachen auszupacken und Lilly bat sie, ihr bei der Umsetzung ihrer Pläne zu helfen. Die Köchin war Feuer und Flamme.
3
Er kann es nicht gewesen sein! Memphis eilte zur Kellertür, die in Hayley Räume führte. Hoffentlich ist sie da. Er klopfte an die große, schwere Eichentür. Dahinter hörte er ihren Herzschlag und ihre Schritte.
„Komm rein“, rief sie von unten.
Er trat ein und rannte die Treppe halb runter. Sein Blick musste ihn verraten haben, denn Hayley war sofort in Habachtstellung.
„Was ist los?“, fragte sie und musterte seine Miene.
„Ich weiß nicht. Vielleicht habe ich es mir eingebildet.“
„Was denn?“
„Ich habe ihn gesehen. Raphael.“
„Was!? Wo?!“
„In der Stadt. Ich war noch mit Lilly einkaufen. Ich bin mir sicher, er war es.“
„Ist er euch gefolgt? Vielleicht hast du dich verguckt?“
„Mir ist nichts aufgefallen. Hayley, ich bin mir sicher, er war es!“ Aufgebracht lief Memphis den Keller ab. Raphael war hier und er hatte sie beobachtet. Er hatte Lilly gesehen.
„Was, wenn er denkt, ich hätte Lilly verwandelt? Er hat sie gesehen!“
„Woher soll er wissen, wer sie ist?“
„Er hat damals gesagt, er findet es raus.“ Raphaels Worte verfolgten Memphis immer noch. „Er sagte, er würde es wissen, wenn ich jemanden verwandle.“
„Aber du hast sie nicht verwandelt. Hast du doch nicht?“
„Natürlich nicht!“ Memphis sah seine Freundin vorwurfsvoll an.
„Dann gibt es keinen Grund zur Besorgnis.“
„Aber er ist hier! Warum? Und wie hat er uns gefunden? Wirken deine Zauber noch?“
Jetzt war es an Hayley, ihm einen vorwurfsvollen Blick zuzuwerfen. „Was denkst du, was ich ständig mache? Ich prüfe sie jeden Tag. Sie sind so stark wie am Anfang.“
„Wir zaubern jetzt mehr. Vielleicht müssen sie stärker sein?“
„Memphis, vertrau mir. Meine Zauber halten.“ Hayley berührte ihn sanft am Arm, um ihn zu beruhigen. Es war lange her, dass ihn etwas so aus der Fassung gebracht hatte.
„Kannst du rausfinden, ob er es war?“, fragte er schon ein bisschen ruhiger.
„Wenn du willst.“
„Bitte.“
„Ich schicke Rave los. Er ist schneller und kommt weiter.“
„Tu das bitte gleich.“
Sie rief ihren Raben zu sich. Der hatte auf seiner Stange gesessen, den Kopf unter einem Flügel verborgen. Jetzt flatterte er auf ihren Arm und sie flüsterte ihm ein paar Worte zu. Dann krächzte er, hob ab und flog durch das kleine Kellerfenster davon.
„Wird Raphael ihn nicht erkennen, wenn er ihn sieht?“ Memphis war sich nicht sicher, wie weit Raves Schutz reichte.
„Nein, meine Zauber für ihn wirken bei jeder Art von Lebewesen.“ Da Raven einer ausgestorbenen Art angehörte, war es gefährlich für ihn, draußen herumzufliegen. Hayley wollte es ihm aber nicht verwehren, also hatte sie einen Zauber um ihn gelegt, der seine Gestalt von einem Schwarzbunten zu einem normalen Raben tarnte, sobald er die Grenze von Green Manor überflog. Auch Leute, die ihn von außerhalb auf dem Grundstück sahen, sahen nur einen normalen Raben.
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