DANIELLE OCHSNER
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Sommer
auf Zeit
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Roman
© 2019 Danielle Ochsner
www.DanielleOchsner.com
Lektorat: Susanne Pavlovic, www.textehexe.com
Covergestaltung, Satz, Korrektorat:
Sabine Albrecht, www.benisa-werbung.de
Bildquellen: ©shutterstock.com/Hanast, ©MSNTY
Handlungen und Personen im Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder bereits verstorbenen Personen sind ungewollt und rein zufällig.
Orte, Markennamen oder Songs werden in einem fiktiven Kontext verwendet.
Inhaltsverzeichnis
Kapitel 1 Kapitel 1
Kapitel 2 Kapitel 2
Kapitel 3 Kapitel 3
Kapitel 4 Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Epilog
Merci
Die Tote von Saint Loup.
Über die Autorin
Now, I'm gonna love you
Till the heavens stop the rain
I'm gonna love you
Till the stars fall from the sky for you and I
The Doors
Touch Me
Kapitel 1
Bis zu diesem Septembermorgen ist es im Nelkenweg friedlich und beschaulich. Man kennt sich, hilft einander mit Zucker aus und lädt sich gegenseitig an Weihnachten oder Ostern auf einen Kaffee ein. Am Ende solch einer Einladung bummelt man dann angesäuselt nach Hause. Man wankt durch die kleine Straße, die eine Sackgasse ist: sieben Häuser an der Zahl, drei rechts und vier links. Das erste ist eine Kneipe, die morgens Kaffee an Hausfrauen ausschenkt und abends Bier an die Männer. Die Bewohner wissen Bescheid, über alles, Geheimnisse gibt es hier keine. Das eine erzählt man sich beim Einkaufen oder in der Linde beim Kaffee. Das andere hinter vorgehaltener Hand.
Zu diesem Zeitpunkt schlafen 937 Personen im Dorf tief. Dreihundert schnarchen laut.
Eine Frau ist wach, weil sie über einen Kuss nachdenkt, den sie am Abend zuvor bekam: Sie hatte einen Mann getroffen, den sie von der Arbeit kennt. Als der Tag zu Ende ging, wurde sie geküsst. Was im Grunde nichts Besonderes ist, für sie aber schon: Ihr letzter Kuss ist über acht Jahre her. Sie liegt seit Stunden wach und starrt an die Decke, das Handy fest in der linken Hand. Er hatte ihr kurz geschrieben und sich für den netten Abend bedankt. Worauf sie innerhalb von drei Sekunden zurückschrieb. Seither blieb das Handy still.
Zoe, Linus’ Tochter, ist wach, weil sie Game of Thrones in ihrem Zimmer gesehen hat und jetzt darüber mit ihrer Freundin chattet. Außerdem erwacht der Wirt der Linde: In dieser Nacht hat ihn die Blase ein halbes dutzend Mal zur Toilette getrieben. Er sieht ein, dass er nicht mehr der Jüngste ist und es unverzichtbar ist, einen Urologen aufzusuchen. Was sein muss, muss halt sein.
Zu guter Letzt ist Linus Berger alles andere als munter. Er hat beschissen geschlafen und erwacht von einem kratzenden Geräusch.
„Paul?“, fragt er träge. Er löst sich von dem Kissen, das er umklammert.
Es raschelt erneut. Die Geräusche sind ihm zuweilen noch immer fremd, obwohl er den Sommer hier im Wohnmobil verbracht hat und nicht in seinem Haus. Die Wände sind dünn, der Wagen wirkt etwas heruntergekommen. Ihm ist das egal.
„Paul …? Bist du das?“
Der Garten ist von zwei Seiten einsehbar. Im Norden steht die alte Buche, sie trägt ihr buntes Herbstkleid. Linus liebt es, wenn im Herbst die Blätter auf den Rasen fallen, obwohl es bedeutet, dass er Stunden damit verbringen muss, Laub zu rechen. Meistens lässt er einen großen Berg davon in der Ecke des Gartens liegen. Ein behaglicher Iglu für Kleintiere. Oder für Paul.
„Dachse schlafen nicht im Laub“, hat Zoe mal gesagt, weil sie eine Sendung darüber gesehen hat. „Die graben Löcher wie Füchse. Nur Igel überwintern im Laub.“
Er schiebt die Vorhänge zur Seite. In der Mitte hängen sie durch, ein paar Gleiter sind aus der Vorhangschiene gerutscht. Es ist nicht auszuschließen, dass Linus das reparieren wird … morgen oder nie.
Der Regen hat nachgelassen. Würde er seine Brille tragen, sähe er, dass der Rasen übersät ist von glitzernden Kristallen. Winzige Tautropfen, die an den Spitzen der Blätter gelandet sind, als hätte eine göttliche Hand in der Nacht prunkvolle Diamanten über das Gras gestreut.
Früher drehte er sich leise nach rechts, um seine Frau nicht zu wecken, wenn er aufstand. Er genoss noch kurz die Wärme ihres Körpers, ihren Duft, bevor er zum Dentallabor fuhr, das er mit einem Kollegen in Aarau führt. Aber jetzt ist da nichts außer dem zweiten Kissen. An die Einsamkeit in der engen Behausung hat er sich längst noch nicht gewöhnt, das wird er nie. Seine Brille ruht neben dem Bett auf der kleinen Konsole, langsam tastet er danach. Sie fällt zu Boden. Linus flucht.
Gleichzeitig hört er ein erschrockenes, letztes Scharren von winzigen Krallen unter dem Fußboden. Die anschließende Stille bedeutet, dass Paul oder wer auch immer verschwunden ist. Er setzt sich die Brille auf, blinzelt zu seinem Haus hinüber, fragt sich, welcher Wochentag heute ist.
Es muss Sonntag sein, er hat morgens den Nachbarn nicht gehört. Der schließt sonst das Garagentor sehr laut, wenn er zur Arbeit fährt.
Die enorme Hitze des Augustes ist vorbei, genauso wie die Sommerferien: Der September überrascht mit kühleren Temperaturen, das Dorf geht wieder in den gemächlichen Trott über. Alles wie gehabt. Es dämmert, ein gedämpftes Licht zieht von Osten über den gepflügten Acker. Gestern hatte Linus am Rand neben den Kuhfladen, die wie Frisbeescheiben aussehen, eine tote Krähe gefunden. Sie lag wie ein Komma da, intakt, als würde sie sich von ihrem Flug erholen. In der Nähe hüpfte eine andere Krähe aufgeregt im Kreis. Als Linus zurück in den Garten ging, flatterte die andere zu ihrem Partner, stieß sie mit dem Schnabel an. Krähen, das weiß Linus, führen ein monogames Leben. Sie bleiben zusammen, bis sie aus der Lebensbahn geschossen werden. Bei Menschen ist das anders: Sie verwandeln sich. Linus hat sich verändert. Seine Frau genauso. Zumindest sagte sie zu ihm: „Du bist nicht mehr der, der du mal warst.“
Kann sein. Er ist an den Schläfen grau geworden, ein bisschen wie der Hund des Nachbarn: Zuerst bekam er eine graue Schnauze, dann Arthrose und schließlich eine Form von Alzheimer. Den Weg nach Hause fand er nicht mehr allein. Man kannte ihn im Dorf. Eddy hieß er. Behutsam wurde er von Schulkindern oder dem Wirt der Linde heimgeführt. Die Kinder bekamen als Dankeschön von seiner Besitzerin einen Schokoladenriegel. Anfangs verschenkte sie Äpfel, aber die Kleinen schauten dann immer so enttäuscht. Schließlich die Riegel. Seither kam es vor, dass der Hund aus dem Garten verschwand und das Gartentor dann offen war. Höchstens geborgt haben sie den Hund, sagten sie, als Linus sie mit Eddy erwischte, wie sie vom Haus wegliefen, statt auf das Haus zu. Nur geliehen. Das ist okay, fand er und schwieg. Manchmal saß der Hund verwirrt im Garten von Linus. Meistens neben der Feuerstelle, an der Zoe im Sommer mit ihren Freundinnen abends Marshmallows grillte.
Da Eddy kaum mehr etwas hörte, half es nicht, in die Hände zu klatschen, um ihn vom Grundstück zu vertreiben. Er musste ihn am Halsband führen. Nein, ich will keinen Schokoladenriegel. Aber Dankeschön.
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