Man hat Eddy diesen Sommer eingeschläfert.
„Da muss er nicht leiden, weißt du“, hatte er Zoe erklärt, die gefasst damit umging. Sie ist kein kleines Kind mehr. Nächstes Jahr wird sie vierzehn. Nein, fünfzehn.
Linus klettert aus dem Bett. Er stößt sich das Knie an der Ecke der Kochnische, der Schmerz schießt in sein Hirn und lässt ihn schlagartig wach werden. Die Restmüdigkeit ist weg. Einen Augenblick denkt er darüber nach, eine seiner Schlaftabletten zu nehmen. Aber im Grunde ist das jetzt egal. Er wird rausgehen wie ein Greis, senile Bettflucht nennt sich das, und rauchend den Zerfall der Krähe in Augenschein nehmen.
Alles zerfällt. Eddy ist tot, die Krähe ist tot und er, Linus Berger, ein Vertriebener aus seinem eigenen Haus.
Leise, um niemanden zu wecken, lässt er die Türe des Wohnmobils ins Schloss fallen. Die Kirchenglocken im Dorf schlagen siebenmal. Er zählt lautlos mit, während er barfuß durch das feuchte Gras stapft. Ein verirrter Tannenzapfen sticht ihn in die Fußsohle. Humpelnd gelangt er zum Ende seines Grundstückes. In direkter Nachbarschaft zu seinem geschniegelten Rasen liegt das Feld, das der Bauer bewirtschaftet.
„Mach was, Linus“, hat Conny gesagt, als sie noch der Meinung war, dass die Aussicht schöner werden könnte.
„Unser Grundstück sieht so aus, als wäre es selbst ein Acker! Wir könnten ein paar blühende Büsche dort setzen lassen, Linus. So als Grenze.“
Seit ein paar Jahren sagt sie kaum mehr etwas, sie sprechen wenig. Wenn sie ihn jetzt sieht, wie er im Garten steht und raucht, den Augen der Nachbarn ausgesetzt, seufzt sie höchstens noch. Es klingt verzweifelt.
„Linus. Du musst was ändern.“
Womöglich hätte er damals diese verdammten Hortensien setzen sollen, oder Rosen. Oder sonst was mit Blümchen dran. Vielleicht hätte das geholfen.
Die Krähe sieht zerzaust aus, der Regen letzte Nacht hat ihr zugesetzt. Sie liegt seitlich, ein Flügel ist ausgebreitet, die Federn gespreizt wie die Finger einer Hand. Ihr Partner ist nicht zu sehen. Linus hat aber den Eindruck, dass er irgendwo in der Nähe sitzt. Am Ende des Feldes, wo der Wald beginnt und gegen Abend die Rehe zu sehen sind, hetzen die Kühe auseinander – Linus ist nicht klar, warum – und rennen in zwei Richtungen davon. Nach ein paar chaotischen Momenten finden sie wieder zu einer Herde zusammen.
Er bläst silberne Rauchwolken in den Septemberhimmel, der sich in Erwartung eines Sonntags biegt, in dem alles möglich ist. Alles. Früher glaubte er daran, dass jeder Morgen ein neues Versprechen birgt: Heute ist dein Tag. Mach was draus. Dein Tag, Linus. Alles ist möglich. Komm, High Five. Zack. Die Welt gehört dir.
Mit zunehmendem Alter schrumpfte die Zuversicht dahin, schmolz wie die Schokoladenriegel in den Händen der Dorfkinder. Heutzutage prüft er im Supermarkt die Ablaufdaten der Joghurts, bevor er sie kauft, weil er der Meinung ist, dass alle ihn betrügen wollen. Er liest das Kleingedruckte in Verträgen, unterschreibt nichts, bevor er nicht darüber geschlafen hat. Dies empfiehlt er auch seiner Tochter Zoe. Mit Nachdruck legt er ihr das stets ans Herz, auch wenn sie es nicht hören will. Womöglich wird er skurril wie Eddy, bevor er starb. Taub ist er noch nicht, aber das ist vielleicht das Nächste, was ihn ereilt.
Linus pinkelt seufzend an den Stamm der Buche, was kümmert es ihn, wenn jemand zusieht. Sein Wohnmobil hat zwar eine Toilette, er benutzt sie aber ungern. Er ist zu faul, den Kanister mit der Flüssigkeit regelmäßig zu wechseln. Während er den Reißverschluss der Jeans hochzieht und das Hemd wieder in die Hose stopft, glaubt er, oben am Fenster den Vorhang zu sehen, der sich bewegt. Conny wird doch nicht schon um diese Zeit, an einem Sonntag, wenn sie ausschlafen kann …? Oder doch? Die Zigarettenkippe legt er in den Aschenbecher, einen ausgedienten Blumentopf. Conny hat ihn auf den kleinen Tisch neben dem Eingang des Wohnmobils gestellt, im Frühling schon, ein paar Tage, nachdem er ausgezogen war. Der Blumentopf ist groß genug, dass Linus vermutlich ein Jahr lang täglich hundert Zigaretten hineinwerfen kann, ohne dass er überquillt.
Zoe sieht von ihrem Fenster aus den Vater im Garten stehen. Warum um alles in der Welt ist er barfuß, im September? Sie weiß nicht, wie man sich fühlt, wenn die Eltern sich trennen. Es scheint aber ein schräges Gefühl zu sein, das total down macht. In der Klasse taten alle so, als wäre ihr Vater gestorben oder ihre Mutter oder gar beide. Der Lehrer sagte: „Magst du die Prüfung schreiben oder brauchst du eine Pause vorher?“ Wozu?, fragte sie sich und entschied sich, bei dem falschen Spiel mitzumachen, in dem sie das arme Opfer mimt, zumindest am Anfang, als sie in der Siebten war. Jetzt in der Achten ist Ben neu zugezogen und alles hat sich verändert. Wenn die Eltern sich scheiden ließen, würde sie hier wohnen bleiben. Das ist sicher. Sie würde nie in einem schlottrigen Wohnmobil leben, das nicht mal WLAN hat. Sie will in der Nähe von Ben bleiben. Basta.
Sie hebt zögernd die Hand und winkt.
Linus sieht das nicht, er ist bereits im Inneren seines Wohnmobils und klopft sich die Füße ordentlich an der Fußmatte ab, dabei hinterlässt er zwei bräunliche Blätter. Zuerst mit dem linken Fuß das Haus betreten, immer, das bringt Glück. Er setzt Kaffee auf, öffnet die verblichenen Vorhänge. Brauner Baumwollstoff mit gelben Blüten. Ein Relikt aus den 90ern, wie ausnahmslos alles im Inneren des Fahrzeugs. Retro, Vintage, etwas in der Art. Er kommt sich manchmal vor, als hätte er einen Zeitsprung hinter sich, wäre durch ein grelles Fenster aus Blumen und kackbraunen Fliesen mindestens zwanzig Jahre zurückgeflogen. Der gelbe Duschvorhang aus Plastik bröselt, wenn Linus ihn zuzieht. Er duscht drüben im Haus, hier hat er kein fließendes Wasser. Im Keller steht eine Dusche neben der Waschküche. Früher mal hatten sie geplant, unten ein Studio für Zoe bauen zu lassen. Dann kam die Zeit, in der Conny eben meinte: „Linus. Wir müssen etwas ändern. DU musst etwas ändern.“ Als sie das sagte, schüttelte sie die blonden Haare nach hinten. Er konnte sich nur auf den Haarschopf konzentrieren. Als sie ihn fragte, ob er verstanden habe, nickte er und hatte keine Ahnung, was sie von ihm wollte. Lief doch gut, oder?
Linus dreht das Radio auf. Draußen trägt eine Amsel ihrer Geliebten ein Lied vor, ein Moped knattert durch die sonst stille Straße, bevor es, nach ein paar Fehlzündungen, verstummt. Ein gemächlicher Sonntag eben. Bisher hat er nie gespürt, wenn sich sein Dasein um hundertachtzig Grad drehte, wenn etwas derart in sein Leben brach, dass es nie mehr sein würde wie vorher. Das war so fluffiges Esoterikzeugs. Dieses Jahr war es im Frühling passiert, das reichte. Die Anzeichen hat er übersehen, dafür lebt er jetzt im eigenen Garten in einem ausrangierten Wohnmobil.
Während er den heißen Kaffee in die einzige Tasse gießt, die er hat, erinnerte er sich, dass heute Flohmarkt in der nahen Kleinstadt Aarau ist. Immer am ersten Sonntag des Monats. Früher sind sie gerne mit Zoe dorthin gegangen, stöberten und fanden einmal sogar ein Schaukelpferd mit nur einer Kufe. Sein Vater reparierte es, aber Zoe fand, das Pferd schaue böse. Seit diesem Zeitpunkt steht es als Dekoration im Esszimmer drüben.
Sein altes Fahrrad hat nur drei Gänge, wovon zwei funktionieren. Linus schiebt es über den Rasen und hinterlässt Abdrücke im Gras. Vor dem Haus schwingt er sich auf den Sattel, die Kette ruckelt ein wenig, zieht dann mit einem lauten Knacken an. Am Ende des Nelkenwegs bei dem Gasthaus Linde schwitzt er schon. Als er in der Kleinstadt ankommt, ist sein Rücken durchnässt. Sport ist nicht seins. Nie gewesen.
Er stellt sein Rad neben ein Schaufenster mit Büstenhaltern, Unterhosen und einem durchsichtigen roten Nachthemd. Auf dem Schild über dem Eingang steht Lingerie Claudia.
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