Ich kann nur Ty ansehen. Ich will, dass sie kämpft. Darum, dass ihr Herz es noch mal schafft, zu schlagen. Und darum, dass sie aufwacht. Doch wenn ich sie so sehe, sehe ich Schmerzen und Leiden für sie.
Duan hat ihr wortwörtlich den Schädel zertrümmert. Ihre linke Gesichtshälfte musste rekonstruiert werden. Sie haben ihr eine Platte aus Metall in den Schädel setzen müssen, da wo ihre Schläfe ist. Ihr Kiefer war mehrfach gebrochen. Ihre Zunge halb abgebissen.
In den vergangenen Monaten sind diese Wunden schon sehr gut verheilt. Das hat uns hoffen lassen, dass Ty es schafft. Die Ärzte hatten sie zu Anfang in ein künstliches Koma versetzt, damit ihr Körper mehr Ruhe hat, doch als sie sie aufwecken wollten, ist Ty nicht aufgewacht. Sie hat einfach weitergeschlafen.
Ich strecke eine Hand aus und lege sie sachte auf ihren Unterbauch. Auch diese Verletzung hat eine große Wunde gerissen. Nicht nur in ihrem Körper, sondern auch in meiner Seele. Ich weiß noch, wie Duan sie dort geschlagen hatte, damit sie zu sich kam und sehen musste, wie ich aus dem Fenster gestoßen wurde.
Als ich nach den ganzen OPs endlich zu ihr durfte, hat man mir dann eine der bis dahin schlimmsten Botschaften überbracht. Sie war schwanger gewesen. Meine Ty hatte ein Baby im Bauch. Doch Duan hat dafür gesorgt, dass es nie das Licht der Welt erblicken würde.
Guenive meinte, sie habe davon nichts gewusst, obwohl sie Ty ja dahingehend untersucht hatte. Ich weiß genau, wann es nur passiert sein kann. Am Tag unserer Ankunft hier. Aber das ist nun nicht mehr wichtig. Duan hat es mir genommen. Er hat mir Ty und unser Baby genommen.
„En? Was willst du tun?“
„Was soll ich tun?“, frage ich fast lautlos zurück.
„Willst du hier sitzen bleiben?“
Ich nicke.
„Wie lange?“
„Für immer.“ Wieder stößt ein Schluchzer aus meiner Kehle. „Ich kann sie nicht gehen lassen, Bay. Ich kann nicht leben, wenn ...“
„Vielleicht gibt es aber keinen anderen Weg, kleiner Bruder.“
„Sie könnte aufwachen.“
Bay nickt sachte, meint dann aber „Und wenn nicht? Sie würde ewig hier liegen. Alt werden und dann doch sterben. Sie würde nicht wollen, dass du neben ihr sitzt und dein Leben vergeudest.“
„Was ist es denn wert?“
„Alles, En! Komm schon, man. Du könntest viel mehr Menschen helfen, wenn du loslässt. Ty würde das sicher wollen. Sie würde wollen, dass du kämpfst.“
„Für was denn? Ich wollte für sie kämpfen. Für unsere Zukunft. Die ist weg.“
„Dann kämpfe jetzt für Tys Ziele.“
Mein Blick trifft seinen. Ich sehe ihn nur verschwommen, weil meine Tränen mir noch immer die Sicht nehmen. Ohne Ty loszulassen, wischte ich mir die Augen an meinem Arm trocken. „Sie wollte, was ich wollte!“, zische ich. „Sie wollte Frieden. Sie wollte leben. Was hat sie jetzt davon? Nichts von beidem!“
„Vielleicht kann sie den Frieden nicht mehr erreichen und vielleicht ist es auch für ein Leben mit dir zu spät. Aber du kannst für den Frieden aufstehen, En. Für den Frieden, den sie so sehr wollte. Den sie sich so sehr gewünscht hat. Was ist zum Beispiel mit ihrer Mum? Die ist noch irgendwo da draußen. Du kannst helfen, sie zu retten. Tu es für Ty. Ich bin sicher, dass sie es will.“
Mein Blick gleitet zurück zu meinem Mädchen. Es stimmt, was Bay sagt. Ty hat immer gesagt, sie wollte etwas tun. Sie wollte helfen. Als ich schlucke, merke ich, wie sich der Stacheldraht um meinen Hals etwas lockert. Tys Mum ist da draußen. Ganz sicher lebt sie noch. Ob ich sie finden kann? Ob ich sie überreden kann, herzukommen? Ob ich sie schützen kann, wo ich doch bei ihrer Tochter so kläglich gescheitert bin?
„Denkst du, ich kann ihre Mum finden?“, will ich wissen und beginne schon zu grübeln, wie man sie aufspüren könnte.
„Warum nicht? Ty hat doch mal gemeint, sie wäre aus der Gegend hier. Vielleicht hast du sogar so großes Glück und sie ist schon in der Stadt.“
Ich schnaube, weil das zu viel des Guten wäre.
Wieder klopft er mir auf die Schulter und steht dann auf. „Du solltest was essen und duschen, Dicker.“
„Ich lasse sie nicht allein.“
„Soll ich hierbleiben?“
Wieder ziehe ich die Brauen zusammen und mustere Bay argwöhnisch.
„Keine Sorge. Ich fasse nichts an. Und du bist ja nicht weit weg.“ Er deutet auf das Bad, das zum Zimmer gehört. „Also?“
„Ich höre alles“, warne ich ihn und erhebe mich schwerfällig. Ich brauche eine ganze Weile, um mich zu überwinden, Tys Hand loszulassen. Schließlich schaffe ich es und lege sie sanft neben ihr aufs Bett. „Bin gleich wieder da, Kleine“, verabschiede ich mich für höchstens zehn Minuten - länger werde ich ganz bestimmt nicht brauchen - gebe ihr noch einen Kuss auf die Stirn und beeile mich dann, damit ich sie nicht zu lange allein lassen muss.
Während das Wasser auf mich prasselt, lausche ich auf alle Geräusche von draußen. Wenn Basil nur falsch atmet, werde ich ihn wieder grün und blau schlagen. Doch er überrascht mich, indem er leise anfängt zu sprechen. Da stehe ich unter dem Wasser und höre ihn mit Ty reden, als würde sie gesund und munter neben ihm sitzen.
„Kleine, ernsthaft. Wenn du wüsstest, was hier abgeht. Die ganze Stadt ist in Aufruhr. Zwei Städte von draußen haben angegriffen und zwei weitere Städte sind unterwegs. Außerdem dreht dein Freund total durch.“ Basil kichert. „Wenn du die Augen aufmachen würdest ...“
Bei diesem Satz brennen meine Augen gleich wieder. Wenn sie es nur tun würde.
„... würdest du sehen, dass er die komplette Einrichtung zerlegt hat. Das war ein Spektakel, sag ich dir. Hier sind alle ausgeflippt, weil sie Ens Ausbrüche noch nicht erlebt haben. Und Kleine, er hat jetzt Flügel. Wusstest du das? So richtig echte, aber irgendwie aus Feuer. Keiner hat sie bisher richtig gesehen, weil er immer gerade total am Austicken war. Sie kommen nur dann raus, glaub ich. Deine Augen würden leuchten, wenn du sie sehen könntest.“
Ich würde alles geben, um ihre Augen nur noch ein Mal leuchten sehen zu können.
Bay verstummt kurz und als er erneut spricht, ist seine Stimme gedrückt. „Du fehlst uns, Kleine. Richtig doll sogar.“ Er atmet tief durch. „Das ist merkwürdig. Du warst für mich immer anstrengend. Großkotzig, besserwisserisch und einfach ein nerviges kleines Ding. Aber scheiße, Ty, du bist das großkotzigste, besserwisserischste, nervigste, aber auch das taffeste kleine Ding, das ich kenne.
Du hast so viel weggesteckt. Bist so oft gefallen und immer wieder aufgestanden. Du hast deine Krankheit besiegt, weißt du das? Die Brandrose ist komplett verheilt. Du hättest im Dreieck Salti geschlagen, wärst du dabei gewesen, als der Arzt es verkündet hat. Kleine, komm schon. Du hast Duan dreimal geschlagen. Das kann’s doch jetzt nicht gewesen sein. Bist du doch nicht die kleine Kämpferin, für die ich dich halte?“ Wieder verstummt er und ich kann quasi Tys Antwort hören.
Natürlich bin ich eine Kämpferin! Schimpfst du mich etwa schwach?! Ich zeig dir gleich, wie schwach ich bin!
Dann spricht Bay wieder. „Ich weiß, wir sind keine Freunde. Und ich weiß du schuldest mir rein gar nichts. Aber, Ty, ich habe eine Bitte an dich. Und ich schwöre dir, wenn du sie mir erfüllst, werde ich alles tun, was du jemals von mir verlangst. Nicht nur ein Mal, sondern immer.
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