Er hob den Arm und roch am Ärmelstoff.
„Sogar hier stinkt es, und dass, obwohl wir draußen im Freien waren.“
„Was ist mit den Reifenspuren?“, wollte Jan wissen.
Harry schüttelte den Kopf.
„Die Kollegen nehmen zwar Gipsabdrücke, aber das könnten sie sich sparen. Der Abdecker ist mit seinen Zwillingsreifen genau über die andere Spur gefahren und hat das, was eventuell nach der vergangenen Zeit noch da gewesen wäre, überlagert.“
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Ihre Augen waren hellblau, kalte Augen. Fast wie bei einem Fisch. Und weil sie auf jegliche Schminke verzichtete, wirkten die Augen noch kleiner in ihrem blassen Gesicht mit den vereinzelten Sommersprossen auf der Nase. Der Pony stand struppig ab, beinahe so, als hätte sie sich ihre blonden Haare selber geschnitten. Jan Eggert, der an der Tischecke im 90-Grad-Winkel zu ihr saß, musste sie ständig anschauen, ob er wollte oder nicht. Es war aber eher so, dass er es wollte. Ihre Figur war ganz passabel, ein bisschen knabenhaft vielleicht für seinen Geschmack, aber ihr Gesicht war durchaus sehenswert. Nicht, weil es übermäßig schön gewesen wäre, sondern weil es so anders war als all die Gesichter der Kolleginnen, denen Jan bislang begegnet war. Trotz ihres noch jungen Alters war die Stirn voller Mimikfalten. Bei jeder Regung legte sie sich in tiefe Falten, wie bei einem Schauspieler, der eine besonders übertriebene Gestik darstellen wollte.
Auf dem letzten gemeinsamen Umtrunk der kleinen Ermittlungsgruppe, bei der Sophie Sell und der andere Neue, Sven Krauss, ihren Einstand gegeben hatten, war er ihr ein bisschen auf den Leib gerückt. Zu fortgeschrittener Stunde und mit reichlicher Schräglage verkürzte er den Intimbereich bis auf Anschlag und flötete dabei ihren Vornamen in ihr rechtes Ohr, immer wieder, wie eine Schallplatte mit einem Sprung. Irgendwann, sie konnte aus Platzgründen nicht mehr ausweichen, platzte ihr der Kragen und sie gab ihm deutlich zu verstehen, was sie von seinen Annäherungsversuchen hielt.
Das nahm er ihr aber nicht weiter übel, denn Sophie war noch am gleichen Abend in der Kneipe in seinem Ansehen gestiegen. Ein anderer Gast hatte ebenfalls Gefallen an ihrer Figur gefunden und sie am Hinterteil betatscht, als sie auf dem Weg zur Toilette war. Ihre Reaktion war eine blitzschnell ausgeteilte Ohrfeige und eine Flut von Beschimpfungen, die gar nicht mehr enden wollte. Jan hatte noch nie eine Frau kennengelernt, die in der Lage war, so viele Schimpfworte in solch kurzer Zeit auszustoßen.
Nachdem nun geklärt war, dass sie nicht auf alte Säcke mit Alkoholproblemen stand, wie sie es sehr direkt formulierte, verlegte sich Jan aufs Beobachten. Er ließ sich keine ihrer Gesten entgehen und behielt dabei den schräg gegenübersitzenden Krauss im Auge. Der war wie Sophie neu in der Gruppe, zur gleichen Zeit dazu gestoßen und kaum älter als die Kollegin. Verschüchtert saß er am Tisch, hatte ein Notizheft aufgeklappt vor sich liegen, in dem er geflissentlich all das notierte, was ihm wichtig erschien und das, was ErSieEs Harder von sich gab, sowieso. Der ewige Streber, dachte Jan verächtlich.
Harry Breugel, der links von Jan saß, blätterte in einer dünnen Akte. Sein Gesicht war dabei völlig ausdruckslos, ob er nur so tat, den Inhalt zu studieren, war ihm nicht anzusehen.
Claudia Harder kam herein. Ihr Gesicht war hochrot und die Haare standen ungekämmt in alle Richtungen ab. Auf dem Ärmel ihres Schlabberpullis war immer noch der Kaffeefleck vom Vortag zu sehen, nur jetzt getrocknet und deshalb leicht verblichen wirkend. Ihrem Spitznamen ErSieEs machte sie beinahe täglich alle Ehre. Sie hatte mit Professor Thiel telefoniert, lautstark, das war den Kollegen im Besprechungsraum nicht entgangen.
„Dieser eingebildete Pinsel“, zischte sie und nahm umständlich Platz.
Mehrere dünne Fallakten, die sie vorher unter ihrem Arm geklemmt hatte, verteilten sich fächerartig vor ihr.
Das Verhältnis zwischen ihr und dem Rechtsmediziner Thiel war äußerst angespannt. Der arrogante und überheblich wirkende Pathologe hielt die ungepflegte und bisweilen unsicher wirkende Hauptkommissarin für die unfähigste Ermittlerin der Dienststelle und ließ keine Gelegenheit aus, ihr seine diesbezügliche Einschätzung unter die Nase zu reiben. Claudia Harder ihrerseits wusste sich auf ihre eigene Art zu wehren, indem sie den eitlen Arzt an seiner Achillesferse erwischte. In Anspielung auf den verbliebenen, ergrauten Haarkranz fragte sie ihn einmal scheinheilig, um wie viele Jahre er bereits das Pensionsalter überschritten hätte. Zu einem entspannteren Verhältnis hatte diese Frage definitiv nicht geführt.
„Wir bekommen heute keine Obduktion mehr, der große Meister hat zu viel zu tun.“
Umso besser, dachte Jan, der sich bereits bis zum späten Abend in der Pathologie gesehen hatte.
„Aber das macht nichts, wir haben genug zu tun. Jan, du kümmerst dich um die Schlachthöfe. Hier ist eine Liste. Vielleicht wird eine Anlieferung vermisst.“
Sie schob eines der Mäppchen über den Tisch.
„Unsere beiden Neulinge können sich um den Lkw kümmern. Überprüft, ob und welche Fahrzeuge in letzter Zeit geklaut wurden. Und wenn ihr nicht weiterkommt, klappert die großen Werkstätten ab.“
„Wir beide“, sie blickte hinüber zu Harry, „kümmern uns um die Vermisstenfälle.“
Jan grinste verstohlen, als sich sein Blick mit Harrys kreuzte. Die Beiden würden sich mit Sicherheit noch eines ganz besonderen Vermisstenfalles annehmen.
8. Vermisst
Katja Bergmann wippte nervös auf dem Hocker in der Küche, vor und zurück, immer soweit, dass das altersschwache Möbelstück nur noch auf zweien der vier Füße stand und sich die Holzkonstruktion leise quietschend verzog. Mit einer Hand presste sie das Handy fest an das linke Ohr, die andere hielt eine Zigarette, deren Asche unablässig auf den Linoleumboden fiel, weil die Hand so zitterte.
„Wer, sagten Sie, sind Sie?“, drang es aus dem Handy.
Trotz ihrer Anspannung nahm sie den genervten Unterton wahr.
„Katja Bergmann, die Lebensgefährtin von Herrn Winter.“
Sie war total angespannt und was noch viel schlimmer war, sie musste unbedingt etwas zum Trinken bekommen, wenn sie diesen Tag überstehen wollte. Nur herrschte in ihrer Geldbörse chronische Ebbe. Gerrit musste unbedingt wieder aufkreuzen, oder wenigstens sein Geld. Jetzt bloß keinen Fehler machen.
„Hier steht nichts von einer Lebensgefährtin“, kam es misstrauisch zurück. „Nach unseren Unterlagen ist Herr Winter allein lebend.“
Katja spürte, dass sich das Gespräch in eine ungünstige Richtung entwickelte, sie würde noch mehr aufpassen müssen.
„Wir haben, wir sind ...“, verhaspelte sie sich, „also wir leben noch nicht solange zusammen.“
Aufgeregt fuhr ihre Zunge über die trockenen Lippen.
„Am Telefon kann ich Ihnen keine Auskünfte geben.“
Die Stimme der Sachbearbeiterin der Arbeitsagentur wurde zunehmend unfreundlicher.
„Aber woher hätte ich denn sonst wissen sollen, dass er kein Geld bekommen hat, ich wohne doch mit ihm zusammen.“
Am anderen Ende blieb es einen Augenblick still. Katja Bergmann freute sich bereits und nahm einen tiefen Zug aus der beinahe verglimmten Zigarette.
„Herr Winter hat den letzten Gesprächstermin nicht eingehalten. Deshalb haben wir die Leistung gestoppt und um einen persönlichen Termin gebeten.“
„Aber Gerrit ist doch weg.“
„Wie weg?“
„Na verschwunden. Spurlos. Mit dem Lkw.“
„Moment mal. Herr Winter fährt nebenbei Lkw?“
Katja hätte sich ohrfeigen können, jetzt würde nur noch ein Wunder helfen.
„Ich vermerke das jetzt hier in der Akte. Wenn Herr Winter weitere Leistungen beziehen will, muss er hierher kommen, sagen Sie ihm das.“
Das Wunder war ausgeblieben.
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