Mahdi schaltete die Hallenbeleuchtung aus, bevor er den Nebenraum betrat und auch diese Tür hinter sich verriegelte. Der Mann, der wartend an einem der Arbeitstische gelehnt hatte, schaute auf. Er trug die gleiche Frisur wie Mahdi, nur war seine Figur wesentlich muskulöser. Bekleidet war er nicht mit einer Schlachterkluft, sondern mit Jeans, T-Shirt und Sportschuhen. Auf Mahdis Kopfnicken hin setzte sich sein Zwillingsbruder Mahamad in Bewegung, den metallenen Baseballschläger ließ er am langen Arm auf dem gefliesten Boden schleifen, ein leises Knirschen begleitete seine Schritte wie eine unausgesprochene Drohung.
Gerrit Winter befand sich in der Mitte des Kühl- und Zerlegeraumes. Er war nackt. Seine Hände waren vorn mit Handschellen gefesselt. Ein derbes Seil zog hinter seinem Rücken die Ellenbogen zusammen und war in dem Flaschenzug eingehakt, der von der Decke hing und ihn soweit anhob, dass nur noch seine Zehenspitzen den Boden erreichten. Das Seil zerrte seine Hände gegen die Brust und zwang ihn in eine nach vorn gebeugte Haltung, als hätte er sich bereits aufgegeben. Gerrits Augen waren von Schlägen zugeschwollen, aus seiner Nase lief ein zäher, roter Schleimfaden bis hinunter zum Kinn. Von dort tropfte er auf die weißen Fliesen, löste sich in dem Urin, den Gerrit vor Angst verloren hatte, wolkenförmig auf und floss langsam dem Ausguss entgegen.
Gerrit hatte die Schritte gehört, er drehte den Kopf und versuchte, mit den verquollenen Augen etwas zu sehen.
„Lasst mich doch bitte zufrieden“, brachte er undeutlich hervor. Bei jedem Wort bildete das Blut in seinem Mund eine rötliche Blase zwischen seinen Lippen. „Ich habe doch alles gesagt, was ich gemacht habe.“
Mahamad hob bereits den Baseballschläger an, aber sein Bruder gebot ihm mit einem knappen Handzeichen Einhalt.
„Keine Angst, Gerrit. Wir schlagen dich nicht mehr.“
„Echt? Macht ihr mich auch los?“
Die Erleichterung war der Stimme trotz der nuschelnden Aussprache anzuhören.
„Gleich, Gerrit, gleich.“
Mahdi gab dem Bruder ein Zeichen mit Kopf. Neugierig trat er der an ihn heran.
„Ich habe es mir überlegt. Lass mich mit ihm allein. Ich werde das ohne dich erledigen.“
Der Zwillingsbruder zuckte mit den Schultern, drehte sich um und verließ den Raum genauso, wie er ihn betreten hatte. Erst als sich die Tür wieder schloss, war das Kratzen des Sportgerätes nicht mehr zu hören. Mahdi war der Ältere der beiden Bruder und damit der unangefochtene Patriarch nach dem Tod des Vaters. Auch wenn es nur wenige Minuten waren, die die beiden voneinander trennten, wurde seine Führungsrolle innerhalb der Familie niemals infrage gestellt.
Er starrte einen Moment auf die verschlossene Tür, als müsse er sich innerlich für das, was nun folgen sollte, wappnen. Nachdem die Starre abfiel, blickte er sich suchend im Raum um. Er trat dann an einen der Schränke heran und öffnete die Schubladen. In der Dritten fand er endlich, was er suchte, einen von jahrelanger Benutzung abgegriffenen Gegenstand in Form eines kurzen Metallrohres. Er hantierte daran herum, während Gerrit unruhiger wurde.
„Was ist denn jetzt? Machst du mich los? Du hast es versprochen. Oder etwa nicht?“
Je mehr er sprach, umso deutlicher wurden seine Worte.
„Ja, warte. Keine Angst, versprochen ist versprochen. Ich finde nichts, womit ich das Seil durchgeschnitten bekomme.“
Das Gerät war nicht geladen, die Suche ging weiter. Ganz hinten in der Schublade war ein zerbeulter Metallkasten, den er unter kratzenden Geräuschen nach vorn zog. Neben einigen Utensilien, deren Verwendungszweck er nicht einmal erahnte, befanden sich drei kleine Schachteln darin, die verschiedenfarbig markiert waren. Aufmerksam las er die Aufschriften, bis er die geeignete gefunden hatte. Rot, extrem starke Ladung für schwerste Tiere.
Umständlich lud er das Gerät, bis er endlich fertig war. Er trat langsam von hinten an Gerrit heran, passte auf, dass er dabei nicht in die Pissepfütze trat, hörte den rasselnden Atem des Gefesselten und registrierte mitleidlos, dass der ganze Körper zitterte.
„Weißt du, was dein Fehler war?“
„Nein, wie soll ich das wissen? Ich habe nichts Unrechtes gemacht.“
„Doch, hast du. Du bist Raucher, oder?“
„Ja und?“
„Rauchen führt zum Tod. Das weiß doch jeder Trottel.“
Bevor Gerrit noch einmal etwas sagen konnte, führte Mahdi das Bolzenschussgerät seitlich an die Schläfe und drückte ab.
7. Cadaverin
Jan Eggert wischte mit der Hand über seinen rasierten Schädel und schaute angewidert auf die stinkende Schleimspur, die quer vor seinen Gummistiefeln über dem Erdboden führte. Die Tierkadaver waren, nachdem der Leichnam geborgen worden war, unter äußerster Vorsicht in den Lkw des Abdeckers gehoben worden. Vorausgegangen war eine heftige Diskussion zwischen Claudia Harder und dem Leiter der Kriminaltechnik, der sich ihrem Ansinnen verweigert hatte, wenigstens einen der Kadaver als Beweismittel sicherzustellen. Als Kompromiss hatten seine Mitarbeiter Gewebeproben entnommen.
„Die bescheuerte Alte wollte tatsächlich so ein halbes Schwein einfrieren. Wie hältst du eigentlich diesen Gestank aus?“
Der Angesprochene richtete sich auf und setzte sich in Bewegung. Mit einem großen Schritt überquerte er die Schleifspur, wischte sich die Gummihandschuhe an seinem Papieroverall ab und verschob den Mundschutz, der das halbe Gesicht bedeckt hatte.
„Erkältungssalbe“, tippte er auf den weißen Pappdeckel, „anders geht es nicht.“
Der Kollege schien froh zu sein, für einen Moment die beengende Maske nicht tragen zu müssen. Seine Haut war schweißnass, die Augen tränten. Er zog einen der Gummihandschuhe aus und nahm die Zigarette entgegen, die ihm Jan vor das Gesicht hielt. Tief atmete er den Rauch ein.
„Das waren keine halben Schweine.“
„Nee? Was denne? Rinderhälften?“
„Wir sind uns nicht sicher. Rinder oder vielleicht auch Pferde. Mal sehen.“
„Und die Kleene? Könnt ihr schon etwas zu ihr sagen?“
Der Mann zuckte mit den Schultern und schaute hinüber zu dem von der Fäulnis verfärbten Körper, der auf einem Tuch lag. Zwei weitere Kollegen knieten neben der zierlichen Gestalt.
„Die Verwesung ist schon weit fortgeschritten. Ein Kind, wenn du mich fragst. Ich glaube nicht, dass sie älter als zwölf oder dreizehn ist. Keine äußerlichen Verletzungen, wenn man von den Handgelenken absieht.“
„Was ist denn mit den Handgelenken?“
„Sie sind offen. Ob das an der Fesselung lag oder ob es einen anderen Grund dafür gibt, lässt sich hier draußen nicht zweifelsfrei feststellen. Deshalb will ich gar nicht erst spekulieren.“
Kopfschüttelnd wandte sich Jan ab und ging einige Schritte in die Richtung des Rastplatzes zurück. Ein weiterer Kollege der Spurensicherung war gerade damit beschäftigt, einen über einen Meter langen Gipsabdruck der Reifenspur vom Erdboden zu lösen. Vorsichtig bewegte er sich daran vorbei, immer parallel zum im Erdreich zu sehenden Abdruck der Reifen.
Auf dem Rastplatz, nur wenige Meter von der Stelle entfernt, an der zunächst ein unbekannter Lastwagen und danach das Abdeckerfahrzeug in das Wäldchen gefahren waren, stand der Zivilwagen. Harry Breugel hockte auf dem Beifahrersitz, die Tür weit geöffnet, als könnte er nicht genug Frischluft bekommen. Auf seinen Knien lag ein Klemmbrett, das oberste Blatt war randvoll mit Notizen beschrieben.
Mit gequältem Gesichtsausdruck schaute er auf, als er den Kollegen näherkommen sah.
„Ekelhaft, was?“, stieß Jan hervor.
Harry nickte. Er wirkte blasser als sowieso schon. Seine teigige Gesichtshaut war schneeweiß.
„Ich hab ja schon einiges gesehen und vor allem gerochen, aber diese Masse an Verwesung, nicht auszuhalten. Selbst mit Salbe in der Nase.“
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