'Ich brauche dich, jetzt!'
Unentschlossen nippte er an dem nächsten Glas, der Finger kreiste über dem Senden-Knopf.
War das richtig? War er sich über seine Gefühle zu ihr wirklich im Klaren? Sie würde alles stehen und liegen lassen, dessen war er sich sicher. Schon am nächsten Morgen würde sie vor seiner Tür stehen. Aber war das richtig? Benutzte er sie vielleicht nur als Ersatz für die unerreichbare Franziska?
Der Finger schwebte weiter und er verspürte dabei einen eigenartigen Druck in der Brust. Das Telefon klingelte, er erkannte die Rufnummer des Observationsteams. Er löschte die Nachricht, ohne sie zu versenden und nahm das Gespräch an.
„Was für ein Bild?“, fragte Björn und nahm das Blatt Papier entgegen, dass ihm sein Chef hinhielt.
Ein von einem Polizeizeichner erstelltes Phantombild, das Gesicht eines Mädchens, schmal, ebenmäßige Züge, von dunklem, glatten Haar umrahmt, das bis auf die Schultern reichte. Während er sich jede Einzelheit einprägte, platzte es aus Hübner heraus.
„Das ist doch die Kleine aus dem Überwachungsvideo, meinst du nicht auch?“
„Wo kommt das her?“, wollte Björn wissen und drehte das Blatt um, weil er hoffte, dass die Rückseite wichtige Infos enthielt, aber sie war leer.
Hübner wedelte mit einem weiteren Zettel.
„Interner Fahndungsaufruf, Moko.“
Jetzt war Björn wieder voll da.
„Sag nicht, dass sie ...“
„Doch, ist sie. Vor ein paar Tagen auf einem Parkplatz an der A 1 gefunden, entsorgt wie Abfall mit einer Lkw-Ladung voll geschlachteter Pferdehälften.“
„Ist die Todesursache bekannt?“
„Nein. Es stand nichts dabei. Sie versuchen, ihre Identität zu klären, zunächst über das Intranet, bevor sie an die Öffentlichkeit gehen. Björn, wenn sie das tatsächlich ist ...“
„Wenn sie das tatsächlich ist, stehen wir genau den Richtigen auf den Füßen.“
Er überlegte kurz.
„Es muss geklärt werden, was mit Katja Bergmann ist. Und wir müssen Kontakt zu den Kollegen der Moko aufnehmen. Das erledige ich gleich selbst. Wer ist denn dort der maßgebliche Ermittler?“
Hübners Augen wanderten über den Zettel in seinen Händen.
„Harder, ein Kollege Harder. Nein, ...“
„Eine Kollegin“, fiel ihm Björn ins Wort. „Ich kenne sie. Bei ihr habe ich meine erste Zeit hier in Berlin verbracht, als ich mich von Hamburg versetzen ließ.“
Das konnte Hübner nicht wissen, Björn hatte mit niemandem der Kollegen über diese Zeit gesprochen, weil sie ihn zu sehr mit Gabriel Schaad, mit der Entführung von Franziska und dem grauenhaften Tod der jungen Kollegin verband.
„Dann bist du ja genau der richtige Ansprechpartner für sie, Verbindungsmann bist du ja sowieso.“
Jetzt grinste der Kriminaloberrat wieder über das ganze Gesicht und Björn fragte sich misstrauisch, ob das nur seine übliche, freundliche Mimik war oder ob mehr dahinter steckte.
Ein paar Minuten später wusste er, dass Katja Bergmann nach wie vor verschwunden war. Ihre Freundin, Petra Maruhn, machte mittlerweile einen sehr aufgelösten Eindruck und war sehr erleichtert, als ihr Björn versprach, einen Kollegen vorbei zu schicken, der eine Vermisstenanzeige aufnehmen würde. Michael Peschel war der Kollege, den es traf.
Die Gefühle, die bei Björn hochkamen, als er danach erneut den Hörer in die Hand nahm und die Rufnummer wählte, waren mehr als zwiespältig.
Am späten Vormittag erreichte Björn das Dienstgebäude, in der auch die Mordkommission ihre Büros hatte. Im Treppenhaus begrüßte er hier und da Kollegen mit Handschlag, die er in seinem mittlerweile dreijährigen Aufenthalt in Berlin persönlich kennengelernt hatte. Fremden warf er nur einen flüchtigen Gruß zu. Vorhin, am Telefon, hatte er mit Harry Breugel gesprochen, Claudia Harder war nicht in ihrem Büro gewesen, eine der unvermeidlichen Besprechungen, wie Harry hämisch bemerkt hatte. Deshalb war es zu dieser Verabredung gekommen, nach dem zweiten Frühstück, ebenfalls Harrys Wortwahl.
Die Begrüßung war beinahe überschwänglich, die Kollegin nahm ihn in den Arm und drückte ihn fest an sich. Er spürte ihren Oberkörper, ihre trockene, raue Gesichtshaut auf seiner Wange. Jener Abend in der Bar war sofort wieder präsent, das Treffen unter Kollegen, als sie ihm eindeutige Angebote gemacht hatte.
Er nahm ihren typischen, muffigen Geruch wahr, nasser Hund. Es hatte sich nichts geändert. Nur Harrys Blick blieb seltsamerweise neutral, während Claudia an ihm hing wie eine Klette. Sollte sich das spezielle Verhältnis der beiden abgekühlt haben?
Er war sicher, dass ihm der von einem Ohr zum anderen grinsende Jan Eggert so bald wie möglich darüber berichten würde.
Kurz darauf saßen sie gemeinsam am Tisch in dem winzigen Besprechungszimmer. Björns ehemaligen Stammplatz belegte ein junger Kollege, den Claudia mit dem Vornamen Sven vorgestellt hatte, blond, sehr schlank und genauso schüchtern. Er wich direkten Blicken schnell aus und Björn bemerkte, dass er vor Aufregung schwitzte. Der andere Neuzugang, eine junge Kollegin, war von einem ganz anderen Kaliber. Kurzes, blondes Haar, das widerspenstig vom Kopf ab stand, nichtssagende Bekleidung, Pulli und Jeans, und ein Gesicht, das zumindest auf den ersten Blick eher unscheinbar wirkte. Das Prägnanteste an ihr waren die Augen, konkreter ihr Blick. Hellblaue, klein wirkende Augen, auf Schminke verzichtete sie völlig, die mit einer unglaublichen Intensität schauen konnten. In dem Blick spiegelten sich Neugier, Entschlossenheit und eine ordentliche Portion Respektlosigkeit. Unwillkürlich musste er bei ihrem Anblick an Isabelle Willmann denken, der jungen Kollegin, die Gabriel Schaad zum Opfer gefallen war, obwohl die junge Frau hier, die sich betont burschikos und unweiblich gab, keinerlei Ähnlichkeit mit ihr besaß.
„Was habt ihr?“, fragte Björn.
Das alte Spielchen, zeig mir deins, dann zeige ich dir meins, begann.
ErSieEs schlug einen Aktendeckel auf und legte ihm einen kleinen Stapel Fotos hin.
„Eine weibliche Leiche, noch ein Kind, entsorgt auf dem Grünstreifen eines kleinen Rastparkplatzes an der A 1, Fahrtrichtung Osten. Gemeinsam mit geschlachteten Pferdehälften, die vollgepumpt waren mit Medikamenten, die in der EU seit Jahren verboten sind.“
Björn betrachtete die Bilder, die die Auffindesituation zeigten. Die von der Verwesung entstellte Leiche, grünlich verfärbte Tierkörper, von Eiterblasen übersät. Weitere Ausführungen hierzu konnte sie sich sparen.
„Sie war schon lange keine Jungfrau mehr, bei den feingeweblichen Untersuchungen sind eine Vielzahl kleinerer Vernarbungen festgestellt worden. Es deutet vieles auf Kinderprostitution hin, obwohl wir keinerlei Spermaspuren gefunden haben. Todesursache dürfte Blutverlust gewesen sein, ausgelöst durch diese Schnitte.“
Sie zeigte Björn ein weiteres Bild, auf dem nur noch sehr vage eine Verletzung an einem der Handgelenke zu sehen war. Die Verwesung war bereits sehr weit fortgeschritten.
„Ob sie sich die Verletzungen selbst zugefügt hat, konnten wir nicht klären. Eben sowenig wie ihre Identität. Bevor wir weitere und teure Untersuchungen starten, haben wir es zunächst mit der internen Ausschreibung versucht.“
„Wir sind hinter einer Bande von Mhallami-Kurden her. Ich sage ganz bewusst Bande, weil es sich um keinen dieser typischen Familienclans handelt. Sie agieren ziemlich untypisch im kleinen Kreis, zumindest haben wir noch keine Schnittstelle gefunden. Aber wir sind auch erst ganz am Anfang.“
Björn referierte über die bisherigen Erkenntnisse, die sie gewonnen hatten, dann bat er Harry, das mitgebrachte Video abzuspielen. Gebannt starrten alle auf den Bildschirm. Als der unbekannte Fahrer des Kleinbusses begann, seine Spielchen mit den Verfolgern zu spielen, ließ Jan ein lautes 'Scheiße' vernehmen.
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