Jan konnte es kaum abwarten, bis die Skizze endlich vor ihm lag. Mit beiden Händen hob er das Blatt an und vertiefte sich in den Anblick des kindlichen Gesichtes. Große, unschuldige Augen, leicht erhöhte Wangenknochen, langes, schwarzes Haar mit Mittelscheitel. Er musste seiner Vorgesetzten Recht geben, der Zeichner war wirklich gut.
„Sie passt zu keiner der vorliegenden Vermisstenanzeigen“, meldete sich Harry erstmals zu Wort und stieß damit ein Brainstorming an.
„Vielleicht aus Osteuropa verschleppt und nach Deutschland verkauft“, war Sophies Beitrag.
Claudia Harders Kopf bewegte sich nachdenklich hin und her.
„Es kommen viele Flüchtlinge ins Land, und dabei sind etliche alleinreisende Kinder und Jugendliche, leichte Beute für diese Verbrecher.“
Die Hauptkommissarin zog eine weitere Kopie der Zeichnung aus der Akte und schloss sie anschließend.
„Teilt euch in zwei Gruppen auf und klappert mit dem Bild die Aufnahmestellen für Flüchtlinge ab. Vielleicht haben wir ja Glück. Und ich werde das Bild von dem Mädchen für eine polizeiinterne Fahndung ins Intranet stellen. Mit einer öffentlichen Fahndungsausschreibung will ich noch etwas warten.“
15. Kettenreaktion
Björn beugte sich gemeinsam mit Michael Peschel über die Aufzeichnungen der beiden Peilsender, die Peschel bereits mit unterschiedlich farbigen Stiften in eine Straßenkarte eingezeichnet hatte. Die Wagen waren unspektakulär durch das Stadtgebiet bewegt worden, zumindest wirkte es auf den ersten Blicken so. Bilal Al Mossa parkte seinen Geländewagen in der Gemeinschaftstiefgarage einer großen Wohnanlage, in der er eine Wohnung besaß und auch beim Einwohnermeldeamt angemeldet war. Durch den vorgeschobenen Firmeninhaber hätten sie ihn ohne den Peilsender nicht ohne Weiteres ermitteln können. Akram Fadel führte zwar den Sportwagen auf seinem Namen, hielt sich aber nicht an der angemeldeten Adresse auf. Er war mit dem Auto zweimal in das gleiche Parkhaus in der Innenstadt gefahren, was für sich genommen noch nicht auffällig war, aber Björn war nicht entgangen, dass dem Kollegen etwas auf der Zunge brannte.
„Hier wird es interessant“, Michaels Zeigefinger tippte auf eine Zeitangabe am Rand der grünen Linie, der Markierung für den Geländewagen, „Al Mossa ist an diesem Parkhaus entlang gefahren und hat hier kurz gestanden, nur knapp drei Minuten. Dann ist er weitergefahren.“
Björn blickte den Kollegen an und wartete geduldig die kleine Pause ab.
„Fadel hat seinen Wagen in der Tiefgarage abgestellt und ist dann zu Fuß raus. Al Mossa hat auf ihn gewartet und dann mitgenommen. Gemeinsam sind sie weiter, und zwar hier hin.“
Peschel musste die ausufernde Karte verschieben, ein Teil hing jetzt wie ein Lappen vom Tisch herab, wieder tippte sein Zeigefinger auf einen markierten Punkt.
„Berlin-Treptow. Eine ehemalige Fleischfabrik. Wir haben die Zentrale dieser Ganoven. Hier waren sie aber auch nur ein paar Minuten und sind wieder zurück in die Stadt.“
Björn nickte zufrieden, das war schneller gegangen als erwartet. Ein altes Gewerbegrundstück am Stadtrand von Berlin. Er überlegte schnell, wie sie weiter vorgehen sollten.
„Wenn wir dort mit der üblichen Methode anfangen, zwei Kollegen in einem Zivilfahrzeug, sind wir sofort verbrannt. Dafür agieren sie viel zu vorsichtig.“
„Dann nimm doch meine Karre, damit fällst du garantiert nicht auf.“
Eine halbe Stunde später rollte Björn in einem Minivan japanischer Herkunft über den Glienecker Weg. Was Michael Peschel flapsig als 'seine Karre' bezeichnete, entpuppte sich als waschechter Pampersbomber, jedenfalls hatte ihn Philipp Wuttke im Vorbeigehen feixend so bezeichnet, während Björn noch ungläubig auf zwei Kindersitze und bunte, mit Saugnäpfen an den Seitenscheiben befestigte Sonnenschutzblenden starrte. Vom Innenspiegel baumelte ein Stofftier, das nicht nur die Sicht enorm beeinträchtigte, sondern erheblich dazu beitragen würde, keinerlei Verdacht zu erregen.
Ein tristes, heruntergekommenes Gewerbegrundstück, welliger Maschendrahtzaun, Unkraut wuchs beinahe kniehoch am Zaun entlang, kein Mensch zu sehen, noch nicht einmal ein einziges Fahrzeug stand auf dem großen Areal. Zwei Hallen, L-förmig angeordnet, vor der einen ein flacher Anbau. Björn erreichte die Sackgasse, hier musste die Zufahrt auf das Gelände sein, er bog ab. Er gelangte zum Tor, ein schweres Rolltor, mehr Rost als Farbreste, geschlossen und an den Eisenpfeiler gekettet. Dies alles nahm er wahr, während der Wagen im gemächlichen Tempo weiterrollte. Anhalten durfte er hier auf keinen Fall, womöglich war eine Kamera verdeckt installiert. Konzentriert suchte er nach einer Observationsmöglichkeit. Der Wagen fuhr im Schritttempo durch den Wendekreis, überall lag vom Wind verteilter Müll, Papier und Plastikfetzen. Dann fiel sein Blick auf das kleine Mehrfamilienhaus, das genau gegenüber des Tores stand. Alter Industriestil, roter Backstein, sogar Verzierungen waren an dem abgerissen wirkenden Gebäude noch zu erkennen. Vier Wohnungen, von denen zwei mit Sicherheit leer standen, keine Gardinen und fleckige Wände, soviel war von der Straße aus zu sehen, in einem einzigen Fenster einer dritten Wohnung hing quer eine Gardinenstange, nur in der vierten Wohnung waren Vorhänge und Gardinen angebracht. Björn fuhr langsam vorbei, im letzten Moment bemerkte er eine Bewegung hinter einem der Fenster, die Gardine schwang minimal, wie von einem Windstoß. Jemand war zu Hause, jemand, der einen fantastischen Blick auf das Gelände hatte.
Er beschleunigte und fuhr aus der Sackgasse hinaus, an der Einmündung bog er zügig nach rechts, für einen Beobachter sollte alles echt aussehen, ein Familienvater, der sich in der Zufahrt geirrt hatte. Knapp dreihundert Meter weiter hielt er an, zog sein Handy aus der Jackentasche. Nach dem zweiten Klingeln war Stefan Zogg in der Leitung. Er gab ihm die Anschrift durch.
„Und dann lass den Namen durch das System laufen, ich muss jeden Eintrag wissen.“
Der Kollege meldete sich wenige Minuten später.
„Ein Rentner, alleinstehend, beinahe siebzig, hat sich schon zweimal über verdächtige Bewegungen auf dem Grundstück beschwert, einmal ist auch die Streife draußen gewesen, hat aber nichts festgestellt. Das Grundstück lag in völliger Dunkelheit, auch beim Anrufer kein Licht“, zitierte Zogg den Eintrag der Kollegen.
Björn ließ sich die Telefonnummer des Mannes geben und wählte. Es dauerte lange, mehr als sechsmal klingelte es, Björn wollte bereits auflegen, als es in der Leitung knackte und sich jemand heiser und in fragendem Ton meldete.
„Ja?“
„Herr Bender?“
„Ja, wer ist denn da?“
„Liebermann, Kripo Berlin.“
„Kripo? Echt?“
„Ja, natürlich.“
„Na endlich, das wurde auch Zeit. Das ist doch bestimmt wegen gestern Abend.“
Sie verabredeten sich, Bender legte keinen Wert auf einen Hausbesuch, Björn konnte die kaum verhohlene Vorsicht des Mannes spüren und ihm selbst war es nur recht.
Dreißig Minuten später, der Hauptkommissar saß längst in der von Bender empfohlenen
Bäckerei mit integriertem Café, kam ein dicker Mann auf einem Krankenfahrstuhl angefahren, trotz der angenehmen Temperaturen mit langer Jacke und Mütze angezogen. Japsend und schwerfällig tapste der Mann Augenblicke später in das Café und steuerte Björns Tisch an, der vereinbarungsgemäß eine zusammengerollte Tageszeitung als Erkennungszeichen in die Luft hielt.
„Tut mir leid, dass Sie warten mussten. Ich bin nicht mehr so gut zu Fuß.“
Er wedelte mit der Hand nach der Bedienung, während er umständlich Platz nahm.
„Hatte ich das richtig verstanden, dass Sie mich eingeladen haben?“, grinste er listig und bestellte sich ein Kännchen Kaffee und drei Kuchenstücke bei der Angestellten, die ihn mit seinem Familiennamen ansprach.
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