„Was soll ich denn mit ihr sprechen?“, reagierte der Fahrer erschrocken.
„Lass dir etwas einfallen. Dass wir von Gerrit kommen, sie besuchen sollen und sie zu ihm bringen, so was. Ist doch nicht schwer.“
Mahamad reichte die Tüte mit der Literflasche Wodka nach vorn, dann stiegen Hussein El Merhi und Akram Fadel aus. Sie überquerten den Gehweg, gingen an mehreren Kinderfahrrädern vorbei, die kreuz und quer vor dem Eingang standen oder lagen, und erreichten die offen stehende Eingangstür. An den acht Klingelknöpfen fehlte mindestens jedes zweite Namensschild, der Name Winter war nicht zu entdecken. Dafür fanden sie ihn am Briefkasten, zusammen mit einem weiteren Namen, Bergmann. Ohne zu wissen, in welche Etage sie mussten, ging sie die Treppe hinauf. Durch ein Treppenhaus, das als Müllabladeplatz oder wahlweise als Schuhablage benutzt wurde. Im Haus waberte ein unangenehmer, nicht zu identifizierender Geruch, vergorenes Essen oder selbst gekochtes Tierfutter. In der dritten Etage prangten endlich an einem Türblatt, dem von kräftigen Fußtritten Löcher zugefügt worden waren, die Namen. Winter und Bergmann, auf einem winzigen Zettel gekritzelt und schief angeklebt. Fadel nickte seinem Begleiter auffordernd zu, der ergab sich in sein Schicksal und drückte auf die Klingel. Nichts geschah.
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„Stell schnell mal den Halter für dieses Kennzeichen fest.“
Björn hatte sich von Karl-Heinz Bender verabschiedet, nachdem der alle wichtigen Details seiner Beobachtungen losgeworden war. Für längere Plaudereien konnte er sich nicht die Zeit nehmen, das Schicksal des kleinen Mädchens drängte sich immer mehr in den Vordergrund seiner Überlegungen. Der Rentner versprach, alle verdächtigen Beobachtungen in der nächsten Zeit sofort mitzuteilen und Björn wusste, dass der Mann dies sehr gewissenhaft machen würde. Jetzt saß er auf dem Parkplatz im geliehenen Familienauto, beobachtete, wie sein neu gewonnener Informant mit dem elektrischen Krankenfahrstuhl nach Hause fuhr und wartete geduldig, bis ihm Stefan Zogg Name und Anschrift der Fahrzeughalterin durchgegeben hatte, eine Adresse in Neukölln. Er informierte den Kollegen über seine nächsten Schritte, routinemäßige Absicherung, nur für alle Fälle.
Die Wohngegend war heruntergekommen, dazu passte das ungepflegte Auto mit dem von Bender erhaltenen Kennzeichen, das um einige Fahrzeuglängen versetzt vor dem Hauseingang stand. Die Dachkante oberhalb der Windschutzscheibe wies eine kleine Eindellung auf, eine unbekannte Flüssigkeit war über die Motorhaube und dem Kotflügel gelaufen und angetrocknet. Alles war stimmig.
Drei Minuten später stand er der Autobesitzerin gegenüber, eine verhärmt wirkende Frau mit einer viel zu großen Brille in dem von roten Adern durchzogenen Gesicht. Sie trug einen eng sitzenden, roten Pulli und eine Jeans. Misstrauisch warf sie Blicke erst auf Björn und dann auf die Kripomarke, die sich dicht vor ihrem Gesicht befand.
„Frau Maruhn“, sprach er sie direkt an in der Hoffnung, die richtige Person vor sich stehen zu haben, „ich komme nicht wegen Ihnen, sondern wegen ihrer Bekannten, die Frau von Gerrit“, setzte er auf die Vertrauenskarte.
Ob er völlig falsch lag bei der Bewertung der Zusammenhänge, würde sich gleich zeigen.
„Ach so.“
Sie entspannte sich und bat ihn sogar in ihre Wohnung. Als sie vor ihm in das Wohnzimmer ging, bekam er Gelegenheit, sie von hinten zu sehen. Sie war derartig
abgemagert, dass unter dem Jeansstoff ihre Hüftknochen zu sehen waren.
„Was ist denn mit Frau Bergmann?“, lieferte sie ihm gleich auch noch den Namen der Frau, während sie Platz nahmen.
„Sie waren gestern Abend vor der ehemaligen Fleischfabrik“, brachte er das Thema sofort in die gewünschte Richtung.
„Woher wissen Sie das?“
„Jemand hat beobachtet, wie Ihr Auto beworfen wurde.“
„Ja, eine Sauerei. Und alles nur, weil Katja ihren Gerrit sucht.“
„Was ist denn mit Gerrit?“
Jetzt wurde sie wieder stutzig und schaute misstrauisch zu ihm hinüber.
„Ich dachte, Sie wüssten etwas von Gerrit. Sie haben doch seinen Namen genannt.“
„Ich weiß nur, dass ein Gerrit gesucht wird und dass Ihr Auto beschädigt wurde, mehr weiß ich noch nicht. Deshalb bin ich hier. Keine Sorge, ich will weder Ihnen noch Ihren Freunden etwas Böses. Also, was ist mit ihm?“
Ganz zufrieden war sie mit der Antwort nicht, irgendetwas hielt sie davon ab, mehr zu erzählen. Er brauchte ein vertrauensbildendes Versprechen.
„Ich ermittele in einer ganz anderen Angelegenheit, mehr kann ich Ihnen nicht sagen. Ich habe das Gefühl, dass Gerrit in großen Schwierigkeiten steckt.“
Endlich gab sie sich einen Ruck, nervös knetete sie bei der Antwort ihre blassen Hände.
„Gerrit, also Herr Winter, ist verschwunden, seit etlichen Tagen. Früher hat er den Lkw von der Fleischfabrik gefahren. Als die dann Pleite gingen, war er erst 'ne Zeit lang arbeitslos, aber dann kamen diese Typen, diese Araber, die hier überall rumlaufen und er hat bei denen ab und zu wieder einen Lkw gefahren.“
'Ab und zu' hörte sich verdammt nach Schwarzarbeit an, das würde das vorsichtige Taktieren der Frau erklären, ging es Björn durch den Kopf.
„Was waren das für Fahrten?“
„Keine Ahnung. Katja meinte mal, er würde dann ins Ausland fahren und gefrorenes Fleisch holen. Das war ja so ein Kühlwagen.“
„Wie oft?“
„Nicht oft, drei- oder viermal im Monat vielleicht.“
„Also wöchentlich?“
„Ja, so ungefähr. Sie fragen mir Löcher in den Bauch. Fragen Sie sie doch selber. Ich habe Sie nur gefahren. Sie war ganz verzweifelt wegen ihm und wegen dem Geld.“
„Wegen des Geldes?“
„Ja. Sie bekommt ja nur Stütze, das reicht hinten und vorn nicht. Ihr fehlt Gerrits Kohle.“
„Und das Schwarzgeld, was er dort verdient hat, meinen Sie?“
Sie schaute betreten.
„Keine Sorge“, beruhigte er sie erneut, „das interessiert mich nicht.“
„Es ist ja nur, weil sie voll an der Flasche hängt, sie braucht jeden Tag ihre Pulle Schluck, mindestens, sonst wird sie verrückt.“
„Wollen wir mal zu ihr hinfahren? Begleiten Sie mich?“
„Wir brauchen nicht fahren“, erhob sie sich aus dem Sofa. „Sie wohnt hier um die Ecke, außerdem bekommen Sie sowieso keinen Parkplatz vor dem Haus.“
****
Hussein El Merhin klopfte gegen die Tür, nachdem sich auf das Klingeln nichts getan hatte. In der Wohnung blieb es ruhig. Er drehte sich zu Akram Fadel um, der ihn mit Kopfnicken aufforderte, erneut zu klopfen. Also ein weiteres Mal, diesmal energischer.
Etwas geschah in der Wohnung, erst ein Rascheln, dann eindeutig Schritte. Eine heisere Stimme rief etwas. Schritte kamen näher. Hussein versuchte, eine Veränderung des Türspions zu entdecken, aber der schien von etwas verdeckt zu sein, er blieb durchgehend dunkel. Die Tür wurde aufgerissen. Eine verwahrloste, dürre Frau stand vor ihm, das reinste Klappergestell.
„Was wollt ihr?“, fragte sie mit der kehligen Stimme einer Langzeitalkoholikerin.
„Gerrit schickt uns“, versuchte Hussein sein freundlichstes Lächeln, das ihn nach Meinung seiner Frau aussehen ließ wie ein türkischer Gemüsehändler.
Er hielt die Plastiktüte hoch, aus der eine leuchtend blaue Flasche Wodka herausragte.
„Gerrit? Wo steckt der denn?“
Hussein beugte sich vor und sprach leiser.
„Er musste sich verstecken, aber er wollte, dass wir Sie benachrichtigen. Können wir reinkommen?“
Ihre Augen fixierten die Flasche, die er noch etwas weiter in ihre Richtung hielt, penibel darauf bedacht, keinen Fingerabdruck auf der Oberfläche zu hinterlassen.
„Ja, kommen Sie“, und sie erschrak, als mit Fadel ein zweiter Mann in ihr Sichtfeld trat, aber nur kurz. Der hypnotische Blick auf die Flasche beeinträchtigte bereits ihr Denkvermögen.
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