Die gesamte Wohnung war in einem chaotischen Zustand, zwischen abgenutzten Möbeln stapelten sich Werbeprospekte, Essensverpackungen, leere Flaschen, die anscheinend kein Pfandgeld erbrachten und sonstiger Unrat.
Hussein hielt ihr in dem Raum, der dem Anschein nach das Wohnzimmer darstellen sollte, die Flasche direkt vor das Gesicht. Sofort schnappte sie danach und zog sie selbst aus der Tüte, die er zusammenknüllte und in seiner Hosentasche verschwinden ließ.
„Trinken Sie ruhig“, forderte er sie auf. „Er ist ja für Sie gedacht. Wodka vom Feinsten, Gerrit hat sich richtig Mühe gemacht und eine gute Sorte ausgesucht.“
Sie sah sich suchend um, schien aber nirgends ein Glas zu sehen. Also schraubte sie den Verschluss ab und setzte die Flasche an. Staunend beobachtete Hussein, wie mit großen Schlucken fast ein Viertel des Inhaltes in der Kehle der schmächtigen Frau verschwand.
Sie atmete schwer, nachdem sie abgesetzt hatte.
„Warum muss er sich denn verstecken?“, wollte sie wissen. „Ist es wegen dem Fahren?“
„Ja genau.“
„Jetzt ist er dran, wegen Schwarzarbeit, was? Ich hab's ihm immer gesagt, dass sie ihn irgendwann erwischen.“
„Ja, ist aber nicht schlimm. Kommt alles wieder in Ordnung. Trinken Sie ruhig noch was, ich sehe doch, dass Sie Durst haben“, mischte sich Akram Fadel ein.
Als hätte sie nur darauf gewartet, setzte sie erneut an, danach war die Flasche bereits halb leer.
„Wir sollen Sie zu Gerrit bringen, er wird Ihnen dann auch Geld geben, damit Sie genug haben.“
„Geld?“, fragte sie ungläubig.
„Klar“, bestätigte Fadel seine Aussage. „Er hat ja genug verdient. Allerdings, da wo er jetzt ist, können Sie nichts trinken. Am besten, Sie nehmen jetzt noch einen ordentlichen Schluck und dann fahren wir los.“
Sie trank wieder.
„Ich muss mir meine Jacke holen“, meinte sie dann und verschwand mit der Flasche in der Hand in einem der Zimmer.
Hussein sah seinen zufrieden grinsenden Begleiter und fühlte sich immer unwohler in seiner Haut. Minuten später tauchte sie auf, sie trug eine Jacke, die versetzt zugeknöpft war. Die Flasche Wodka war nicht mehr zu sehen, er war sich sicher, dass sie den Rest in dem kurzen Augenblick ausgetrunken hatte.
****
Björn folgte der dünnen Frau, die von hinten wie ein junges Mädchen wirkte, im Treppenhaus nach unten. Vor dem Haus angekommen, schien sie unschlüssig zu sein, sie blieb stehen.
„Na, vielleicht doch lieber das Auto?“
„Nein, ich frage mich nur, ob ich das richtig mache mit Ihnen, also dass ich Sie zu ihr hinbringe.“
Björn, der versetzt hinter ihr stand, verdrehte die Augen.
„Das hatten wir doch schon. Glauben Sie mir, sie ist in Gefahr. Wenn sie noch mal vor dem alten Betriebshof auftaucht, fliegen nicht nur Flaschen. Ganz sicher.“
Sie setzte sich wieder in Bewegung, Björn hielt sich neben ihr und fragte sich, was sie wohl gemeinsam für ein Bild abgaben. Es ging über wackelige Gehwegplatten an zugewucherten Grünbereichen vorbei, in denen überall Müll herum lag.
„Das sieht schlimm aus hier, ich weiß“, meinte sie wie zur Entschuldigung, als Björn wegen einer massenhaften Ansammlung von alten Autoreifen ungläubig den Kopf schüttelte. Sie gelangten zur Rückseite eines parallel stehenden Häuserblocks, dessen Fensterdekorationen die Verwahrlosung der Außenanlagen widerspiegelten.
„Sehen Sie“, meinte Frau Maruhn, nachdem sie das Haus umrundet hatten und zur Eingangsseite gelangt waren, „kein Parkplatz frei.“
Wie um diese Aussage zu konterkarieren, setzte sich weiter vorn, drei Hauseingänge entfernt, ein schwarzer Kleinbus in Bewegung und entfernte sich zügig. Björn stutzte, weil der neuwertig aussehende Wagen nicht in die Gegend passen wollte, aber um das Nummernschild ablesen zu können, war die Entfernung von Anfang an zu groß gewesen. Unwillkürlich aber beschleunigte er seine Schritte.
„Ist es noch weit?“
„Wir müssen ganz nach vorn, zum letzten Eingang.“
Dort, wo eben der schwarze Kleinbus losgefahren war. Björn wurde noch schneller, das anfängliche Unbehagen beim Erblicken des Autos steigerte sich, ohne dass er es beeinflussen konnte.
„Was ist denn auf einmal los?“, schnaufte die Frau, die schon deutlich zurückgefallen war.
„In welcher Etage wohnt sie?“
„In der Dritten.“
Natürlich. Fast ganz oben, wo sonst? Björn spurtete nach oben und erreichte den dritten Stock, als seine Begleiterin gerade das Treppenhaus betrat. Er klingelte und weil er kein Geräusch hörte, schlug er sofort mit der flachen Hand gegen die Tür. Keine Reaktion. Noch bevor Petra Maruhn oben war, klingelte er an der Nachbartür. Eine rundliche Frau mit Kopftuch öffnete.
„Polizei. Haben Sie Ihre Nachbarin heute schon gesehen?“
Sie schüttelte den Kopf und verschwand wieder hinter der Tür.
„Was ist denn plötzlich in Sie gefahren?“, wiederholte Maruhn ihre Frage.
„Nur ein komisches Gefühl, vielleicht täusche ich mich auch.“
Björn strich sich über den Bart.
„Sie macht nicht auf. Wo könnte sie sein?“
„Weiß nicht. Um die Zeit hockt sie immer vor dem Fernseher.“
Sie machte mit der Hand eine eindeutige Bewegung. Fernsehen und trinken.
„Aber wir können ja nachsehen.“
Ungläubig beobachtete Björn, wie seine Begleiterin ihr Schlüsselbund aus der Hosentasche zog und die Wohnungstür aufschloss, als wäre das selbstverständlich.
„Lassen Sie mich vor, sicher ist sicher“, schob er sie beiseite und schlich in die Wohnung hinein. Kurz darauf war klar, dass sich niemand darin aufhielt.
„Sehen Sie sich bitte mal um, ob Ihnen etwas auffällt. Ein Möbel, das anders steht als sonst, irgendwas.“
Deutlicher wollte Björn nicht werden, musste er aber auch nicht. Petra Maruhn legte ihre Stirn in Falten, bevor sie einen Raum nach dem anderen durchschritt. Gleich in der Tür zum Schlafzimmer blieb sie stehen.
„Dort“, zeigte sie auf die Fensterbank. „Die blaue Flasche dort.“
„Was ist damit?“
„So eine Flasche habe ich noch nie bei ihr gesehen, sieht viel zu teuer aus. Dafür würde sie drei Flaschen von ihrem Fusel bekommen.“
Björn trat an die Fensterbank heran, die Flasche war offen. Er beugte sich hinab und roch an der Öffnung, das Wodkaaroma war noch sehr intensiv. Der schwarze Bus kam ihm erneut in den Sinn. Er ließ die Flasche mit spitzen Fingern in einer der vielen herumliegenden Einkaufstüten verschwinden.
„Wenn Sie etwas von Ihrer Freundin hören, rufen Sie mich sofort an“, und reichte der Frau seine Visitenkarte.
Als er zurück in den Hausflur trat, fiel ihm der beißende Geruch auf, den er vorher in seiner Anspannung nicht wahrgenommen hatte. Das Abklappern der unten gelegenen Wohnungen brachte ihn nicht weiter, entweder wurde nicht geöffnet oder man hatte nichts gesehen.
****
Der Alkohol zeigte langsam die erwünschte Wirkung. Zuerst begann Katja Bergmanns Kopf bei jeder Unebenheit zu wackeln, im Verlauf der Fahrt wurden dann auch die anderen Bewegungen und Reaktionen ihres Körpers immer unkontrollierter. Obwohl sie angeschnallt war, drohte sie in den Kurven aus dem Gurt zu rutschen. Mahamad war dicht an sie heran gerutscht und hatte den Arm um sie gelegt. Hussein konnte im Rückspiegel sehen, wie unwillig er das tat. Zu Anfang führte sie noch einen Monolog über ihren Gerrit und wie sehr sie sich darauf freue, ihn endlich wieder zu sehen. Nachdem sie mehrmals die gleichen Sätze geleiert hatte und plötzlich mit schwerer Zunge fragte, ob das auch wirklich stimmen würde, antwortete Akram Fadel knapp, dass sie gleich ihrem Gerrit gegenüberstehen würde. Hussein drehte den Kopf zur Seite und konnte das hämische Grinsen im Gesicht seines Beifahrers sehen. Statt 'Gerrit' hätte er besser 'Al-Chaliq' -Schöpfer- sagen sollen. Ihm gefiel immer weniger, was er hier tat.
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