„Die Beschwerde, nicht wahr? Diese verfluchte Ärztekammer.“
„Ich muss nicht alles wissen, schon gar nicht über irgendwelche Vereinbarungen. Ich will nur wissen, hat sich der Arzt Ihnen gegenüber unangemessen verhalten?“
Sie starrte ihn an, sekundenlang. Er konnte sehen, wie sie schluckte und wie langsam Wasser in ihre Augen trat, bevor sie nickte. Sie senkte den Kopf.
„Es war so erniedrigend“, begann sie stockend. „Ich hatte eine winzige Verhärtung in der linken Achsel am Brustansatz ertastet und wollte das geklärt haben.“
„Beim Internisten?“, unterbrach Peschel.
„Ach was, er war Frauenarzt.“
Peschel schüttelte den Kopf und korrigierte seine Aufzeichnungen.
„Zunächst verlief alles völlig normal. Aber plötzlich fing er an, mich in einer Weise zu berühren, die mit einer Suche nach Knötchen nichts mehr zu tun hatte. Aus dem Tasten wurde ein regelrechtes Streicheln. Da hätte ich schon abbrechen müssen, aber ich war wie gelähmt. Davon scheint er sich ermuntert gefühlt zu haben.“
Sie musste abbrechen, wieder traten Tränen in ihre Augen, sie schnappte nach Luft, weitersprechen konnte sie nicht mehr.
Michael Peschel legte seine Hand auf ihre beiden, um sie zu beruhigen.
„Es ist gut, Sie müssen nichts mehr sagen. Lassen Sie mich vage formulieren, was danach geschehen sein könnte und Sie nicken nur oder schütteln den Kopf, okay?“
Sie nickte.
„Es blieb nicht bei den Berührungen Ihrer Brust, er hat Sie auch woanders angefasst.“
Ihr Kopf war nach unten gebeugt, es dauerte lange, bis sie ihn bewegte, ein schwaches Nicken. Peschel fühlte sich immer unwohler bei dieser Befragung.
„Ist es zu weiteren Handlungen gekommen, über das Anfassen hinaus?“
Jetzt schüttelte sie den Kopf und schaute auf, blickte Michael Peschel direkt an, diesmal waren ihren Augen hasserfüllt.
„Ich habe ihn angebrüllt, was er sich erlaube und das er das Letzte sei. Nachdem ich angezogen war, bin ich rausgelaufen und nach vorn zum Empfang. Der Arzthelferin habe ich zugerufen, dass ihr Chef seine Patientinnen befingert, so laut, dass man es im Wartezimmer hören musste. An ihrem Gesicht habe ich gesehen, dass ich nicht die Erste war, die sich beschwert hat.“
Der Beamte rutschte erneut einige Zentimeter vor und legte seine Hand auf ihren Unterarm.
„Haben Sie vielen Dank, Sie haben mir sehr geholfen. Ich versichere Ihnen, dass Ihr Name in keiner Ermittlungsakte auftauchen wird.“
Das Klingeln an der Eingangstür verhinderte einen weiteren Dialog. Peschel nickte der Frau aufmunternd zu, sie öffnete.
Auf dem Trittsein stand eine ebenso elegante Frau, etwas fülliger vielleicht.
„Mein Name ist Peschel, Kripo Berlin“, übernahm er die Initiative, während er sich an seiner Gastgeberin vorbeischob. „Hier sind in der vergangenen Nacht ein paar verdächtige Gestalten rumgeschlichen. Haben Sie vielleicht Beobachtungen gemacht, die uns weiterhelfen?“
Die Frau musterte ihn, seine Dienstmarke und ihre Bekannte abwechselnd und äußerst misstrauisch.
„Verdächtige Gestalten?“ Sie schaute Peschel, der mit Jeans und abgewetzter Lederjacke wenig repräsentativ aussah, spöttisch von unten bis oben an, bevor sie mit rauer Stimme lachte. „Machen Sie mal einen Stadtbummel, dann sehen Sie haufenweise verdächtige Gestalten.“
****
Björn Liebermann saß in seinem Büro. Er starrte gedankenverloren den Kunstdruck an, der gegenüber seines Schreibtisches an der Wand hing. Jedes Mal, wenn er aufschaute, fiel sein Blick darauf. Ein Geschenk von Mariola, Franz Marcs 'Kleine gelbe Pferde'.
„Es soll dich immer an mich erinnern“, er spürte immer noch ihren heißen Atem im Ohr, wenn er daran dachte.
Und wie sehr es das schaffte, die polnische Dolmetscherin immer wieder in Erinnerung zu bringen, lag nicht allein an den harmonischen Rundungen und der Farbsymbolik des Künstlers, für den gelb für die Weiblichkeit stand. Immer öfter ertappte er sich dabei, dass seine Gedanken abschweiften und ihr Bild vor seinem geistigen Auge entstand. Er würde eine Entscheidung nicht mehr ewig hinauszögern können, das war er ihr und auch sich schuldig, obwohl sie selbst dieses Thema nicht mehr ansprach. Dafür sprach aber ihr Verhalten Bände, die Verabschiedungen wurden immer intensiver, bevor sie sich nach jedem ihrer Treffen in den Zug setzte, um zu ihrem Mann nach Polen zurückzufahren. Aber immer noch schwirrte ihm Franziska durch den Kopf, und dabei hatte er seine Ex seit weit über einem Jahr nicht mehr gesehen. Seit er sie mit knapper Not aus den Fängen des Serienmörders Gabriel Schaad retten konnte, herrschte völlige Funkstille. In einem unpersönlichen Schreiben wurde ihm seinerzeit mitgeteilt, dass sie keinerlei Kontakt wünsche, um nicht erneut Zielscheibe eines Irren zu werden, der eigentlich ihm schaden wolle. Die frisch gekaufte Penthousewohnung soll gleich darauf verkauft worden sein, wo sie jetzt mit ihrem Bankerpartner wohnte, wusste er nicht, noch nicht einmal, ob sie noch ein Paar waren. Unmittelbar nach dem Mordversuch hatte er ihre Anschrift überprüft und festgestellt, dass sie verzogen war. Beim Einwohnermeldeamt hatte sie eine Auskunftssperre eintragen lassen. Die galt natürlich nicht für polizeiliche Ermittlungen, aber er hatte es dabei belassen. Trotzdem ging sie ihm nicht aus dem Kopf. Die Einzige, die davon völlig unberührt blieb, war Laura, die mittlerweile in die Jahre gekommene Golden-Retriever-Dame, die immer noch seine Begleiterin war. Das Verhältnis zwischen Franziska und dem Hund war nie besonders innig gewesen. Er musste sich dringend von diesem Thema lösen und beschloss, sich wieder auf den aktuellen Fall zu konzentrieren.
Die ersten Ermittlungsergebnisse lagen vor.
Für die deutschen Behörden war ein Strohmann als Verantwortlicher der B.A.M. Fleischhandel Ltd. eingetragen worden, ein im Libanon geborener Mann, dessen Staatsangehörigkeit ungeklärt war und der ebenso unbescholten wie unauffindbar war. Die Peilsender an den beiden Wagen arbeiteten einwandfrei, deshalb wussten sie mittlerweile, wer der stämmige Mann gewesen war, dessen Außenspiegel durch Stefan Zogg umgebogen wurde, Bilal Al Mossa und damit war auch klar, was die Abkürzung B.A.M. bedeutete. Der Mann war hochgradig kriminell, bereits in Erscheinung getreten wegen diverser Körperverletzungsdelikte, aber auch in Verbindung mit Waffendeals und Drogenhandel war sein Name schon gefallen. Als Björn den Namen in das Abfrageportal eingab, leuchteten in roten Lettern die Worte 'Betäubungsmittel, gewalttätig, bewaffnet' auf. Die Bilder der letzten erkennungsdienstlichen Behandlung waren allerdings schon ein paar Jahre alt, er hatte sich deutlich verändert. Bis vor drei Jahren war er Besitzer eine Shisha-Bar und damit ständig im Fokus der Ermittler gewesen. Dass er seine Existenz und seinen Aufenthaltsort so aufwendig verschleierte, bestätigte den anfänglichen Verdacht, sie waren einem ganz dicken Fisch auf der Spur. Es würde spannend werden, welche Bewegungsprofile sich anhand der Peilsender in den nächsten Tagen nachzeichnen ließen. Irgendwo musste die Bande schließlich einen Unterschlupf haben, für das oder die Mädchen und für Fahrzeuge, ein Fleischhandel benötigte zwangsläufig einen Kühltransporter. Michael Peschels Befragung der Patientin hatte das Bild des ehemaligen Arztes ein wenig vervollständigt, für eine Konfrontation war es allerdings noch viel zu früh. Wahrscheinlich war der Mann ohnehin nur eine Randfigur und würde erst am Ende der Ermittlungen über die Klinge springen. Das kleine Mädchen von dem Video bereitete ihm die meisten Sorgen. Jeder Tag, den sie im Dunstkreis dieser Verbrecher verbringen musste, war ein Tag zu viel, aber im Moment sah er keinerlei Möglichkeit, schneller an ihren Aufenthaltsort zu gelangen. Björn warf einen Blick auf seine Armbanduhr, beinahe sieben. Wieder ein langer Tag. Er schob die Akten beiseite und erhob sich, es wurde Zeit, nach Hause zu fahren und eine Runde mit Laura zu drehen. Dabei konnte er erfahrungsgemäß am besten über die nächsten Schritte nachdenken.
Читать дальше