12. Wurfübungen
Diesmal war es das Hupen eines Autos, das Karl-Heinz Bender veranlasste, sich aus seinem Sessel zu erheben. Schwerfällig bewegte er sich zum Fenster und nutzte dabei jede Möglichkeit, sich an den Möbelstücken abzustützen. Beim letzten Mal war er zu hastig gewesen und hatte sich das Knie verdreht, das kam davon, wenn man zu neugierig war, schalt er sich selbst. Aber was sollte er sonst auch den ganzen Tag tun, das Fernsehen langweilte ihn mehr und mehr. Wieder ein Hupen, diesmal kurz und auf seltsame Weise zornig klingend. Er konnte sich nicht erinnern, wann er zum letzten Mal eine Hupe in der Sackgasse gehört hatte. Früher konnten die Lieferanten durch das ständig geöffnete Tor fahren und hatten es nicht nötig gehabt, auf die Hupe zu drücken. Dann, als sich die Besitzverhältnisse änderten, fuhren die Autos betont unauffällig vor. Wer hinein wollte, hatte einen Schlüssel für das Tor und meistens kamen die Fahrzeuge außerhalb gewöhnlicher Geschäftszeiten. Er hatte schon einmal mit einem der wenigen noch lebenden Bekannten darüber gesprochen, die ihm noch geblieben waren. Der riet ihm, einfach die Polizei anzurufen und seine Beobachtungen zu schildern.
„Und dann?“, hatte er gefragt. „Hab ich schon hinter mir, es nimmt einen doch keiner für voll.“
Merkwürdige Gestalten zu merkwürdigen Zeiten, aha, hatte der Beamte beim letzten Mal desinteressiert geantwortet, er war sich wie ein Oberverdachtsschöpfer vorgekommen. Bei seinem ersten Anruf einige Zeit vorher war wenigstens noch ein Streifenwagen gekommen, hatte seine Runde in der Sackgasse gedreht und war genauso schnell wieder verschwunden.
Aber in den letzten Tagen häuften sich tatsächlich die merkwürdigen Begebenheiten. Der Kühl-Lkw mit dem schmächtigen Fahrer war verschwunden, den hatte er schon mehrere Tage, oder waren es bereits Wochen?, nicht mehr gesehen. Der Mann musste der letzte von der alten Belegschaft gewesen sein. Dafür gab es jetzt anscheinend einen anderen Lastwagen, einmal war er bislang aufgetaucht, ein ausländischer Fahrer und polnische Kennzeichen. Der Lastwagen war rückwärts in die große Halle gefahren worden, wie der andere früher auch, dann hatte jemand den Fahrer weggebracht. Denn das war auch so eine Merkwürdigkeit, der Fahrer des Lkw war nie mit seinem eigenen Auto vorgefahren, er wurde gebracht und geholt. Und erst wenn er weg war, kamen ein oder manchmal zwei Kleinbusse, die danach lange rückwärts vor der Halle parkten. Die Spinner im Flachbau ließen sich dabei nie blicken und wenn sie sich doch mal aus ihrer Unterkunft wagten, wurden sie augenblicklich zurückgepfiffen. Und dann tauchte die Frau auf, die so verwahrlost aussah wie eine dieser Wohnungslosen, das hatte Bender sogar auf die Entfernung erkennen können. Ein drittes Mal hupte es, jetzt lang gezogen, es begann sogar, den gutmütigen Rentner zu nerven. Endlich erreichte er schwer atmend das Fenster, nachdem er zuvor das Licht und auch den Fernseher ausgeschaltet hatte, um nicht als Silhouette gesehen zu werden. Im schummerigen Licht vor dem Haus sah er einen Kleinwagen quer vor dem verschlossenen Hoftor stehen. Ein ungepflegtes Auto, dessen orangefarbener Lack verblichen wirkte und dem eine Radkappe fehlte. Die Person am Steuer beugte sich weit nach vorn und hatte den Kopf nach rechts, zum Grundstück hin, gewandt. Bei längerer Konzentration auf das Bild vor sich erkannte Bender immer mehr Einzelheiten, die Frau von heute Vormittag war wieder da. Sie stand zwischen dem Auto und dem Zaun.
Der Beobachter wunderte sich, dass die Reaktion der Bewohner aus dem Anbau auf sich warten ließ, immerhin war seit dem ersten Hupen schon einige Zeit vergangen. Die Frau schimpfte lautstark und beugte sich dabei immer wieder durch die offenstehende Tür in das Auto hinein. Und dann war plötzlich klar, warum so viel Zeit vergangen war.
Unbemerkt waren drei junge Männer von der Seite kommend, zum Tor vorgedrungen. Sie mussten die große Halle von hinten umrundet haben. Jetzt tauchten sie laut grölend auf und bewarfen das Auto und die Frau. Bender sah Bierdosen und Flaschen fliegen, eine ganz knapp am Kopf der Frau vorbei. Eine volle Flasche klatschte an die Oberkante der Windschutzscheibe, schäumende Flüssigkeit verteilte sich auf dem Glas.
Der Motor des Wagens wurde gestartet, die Frau sprang in den Schutz des Autos hinein, die drei Gestalten hinter dem Zaun amüsierten sich prächtig. Bockend wie bei einem Fahranfänger setzte sich das kleine Fahrzeug in Bewegung, fuhr einen unsicheren Kreis im Wendehammer und kam dann an Benders Fenster vorbei. Der Rentner schaffte es gerade noch, sich das Kennzeichen zu notieren.
13. Streifzüge
Leif Keppler stocherte mit einem Holzpiekser in der Pappschale mit mundgerecht geschnittenen Wurststückchen, die in einer undefinierbaren, aber sehr scharfen Soße schwammen. Am linken Ende der Schale befanden sich noch eine Handvoll schlabbriger Pommes. Der deutlich übergewichtige Fünfziger hockte in der äußersten linken Ecke vor dem Tresen, starrte abwechselnd auf die lauwarme Mahlzeit und auf die Besitzerin der Imbissbude und überlegte, ob er eine ebenso lauwarme Beziehung wieder aufwärmen sollte. Von seinem Sitzplatz aus hatte er alles im Auge, was sich in dem kleinen Stand und direkt davor abspielte. Und er sah die Besitzerin des Grills in voller Größe und nicht nur vom Kopf bis zur Hüfte wie die anderen Gäste, die am Haupttresen standen oder saßen.
„Du warst lange nicht mehr hier. Ich habe dich schon vermisst“, raunte ihm die bald zehn Jahre ältere Frau zu, als sie vor ihm in einer der Schubladen hantierte. Bevor ihre Hand wieder mit einem Bündel gefalteter Servietten auftauchte, gewährte sie ihm absichtlich einen tiefen Einblick in ihr Dekolleté.
„Ich war eine Zeit lang in einem anderen Bereich eingesetzt und habe es nicht hierher geschafft“, antwortete Keppler. „Du hattest immer schon geschlossen, wenn ich endlich Feierabend hatte.“
Das war ganz schön verwegen, denn Rita schloss nicht vor zehn Uhr am Abend, aber die Frau schien es zu schlucken. Sie hatten sich hin und wieder getroffen, wenn er nichts Besseres vorgehabt hatte auf seinen Streifzügen durch das abendliche Berlin. Er half ihr beim Abschließen der Imbissbude, die kaum größer war als ein Wohnwagen und sie lud ihn zu sich nach Hause ein. Während sie sich frisch machte, wartete er auf der Couch und trank das Bier, das sie extra für ihn aus dem Kühlschrank des Imbisswagens mitgebracht hatte. Wenn sie dann frisch geduscht und frisiert im Morgenmantel erschien und sich neben ihn setzte, in dem aufklaffenden Spalt der Mantelschöße blitzen schwarze Strumpfhalter auf, war die rundliche Frau mit den dünnen, blondierten Haaren sogar ein bisschen attraktiv für ihn. Die Wahrheit war, dass er sie und die gelegentlichen Treffen eingetauscht hatte gegen eine wesentlich Jüngere, die sich aber auf Dauer nicht mit der Rolle der Geliebten zufriedengeben wollte und klare Forderungen stellte. Deshalb war er seit gut zwei Wochen ohne Beziehung, wenn man davon absah, dass er verheiratet war und seine Frau zu Hause auf ihn wartete.
„Und jetzt bist du wieder hier in der Gegend.“
Es war nicht so ganz eindeutig, ob es eine Frage oder eine Feststellung war, die Rita an ihn richtete, nachdem sie einem schon deutlich angeschlagenen Kunden eine Bratwurst verkauft hatte. Er sah sie wieder an. Sie trug einen weißen Kittel, Nylonstrümpfe bis zur Wade und Gesundheitspantoffel. Er wusste, dass sie darunter lediglich einen BH und einen Slip trug und irgendwie erregte ihn der Gedanke, sie wieder einmal zu besitzen. Das Klingeln seines Handys unterbrach die beginnende Konversation.
„Du sollst mich doch nicht anrufen um diese Zeit“, knurrte er genervt in das Gerät und drehte den Oberkörper vom Tresen weg.
„Ist etwas Wichtiges?“
„Nein, ich wollte ...“
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