Da hatte er das Gespräch bereits getrennt. Rita sagte nichts, sie lächelte nur zufrieden und schien zu wissen, dass sie dieses Match gewonnen hatte.
****
Knapp drei Stunden später. Die Imbisswirtin Rita hatte den späten Gast mit in ihre bescheidene Wohnung genommen, sich frisch gemacht, den Geruch von Bratenfett und Currywurst notdürftig mit Parfüm überdeckt und mit dem deutlich jüngeren Mann eine Runde gevögelt. Danach unterhielten sie sich aus Höflichkeit und, um die Verlegenheit zu überspielen, noch eine Weile, sprachen über belanglose Sachen und nahmen sich gegenseitig das Versprechen ab, ihre alte Beziehung wieder aufzuwärmen und sich sobald wie möglich wieder zu treffen. Leif Keppler suchte seine Kleidung zusammen, die in der gesamten Wohnung verstreut lag und war froh, dass Rita nicht zu den Frauen gehörte, die auf schwülstige Verabschiedungen standen. Vor dem Haus zog er eine Zigarette aus einer zusammengedrückten Schachtel, zündete sie an und inhalierte der Rauch tief. Er warf einen Blick auf die Uhr, gleich eins. Auf den nächtlichen Straßen von Berlin war es bereits deutlich ruhiger geworden, immerhin war es mitten in der Woche. Er machte sich auf den Weg, sein Ziel war ein Internetcafé in Berlin-Mitte, das noch etwa zwei Stunden geöffnet sein würde. Er erreichte es um kurz nach halb zwei und ging zunächst langsam vorbei, um vorsichtig einen Blick in den Laden zu werfen. Es waren nur vier Plätze besetzt und die Aufsicht am Tresen, ein dünner, junger Mann mit Zopf und langem Kinnbart blätterte in einem Magazin. Niemand schien auf ihn zu achten, also drehte er um und betrat das Café. Von der Aufsicht ließ er sich einen freien Sitzungsplatz in der hintersten Ecke zuweisen. Um nicht aufzufallen, öffnete er eine unverdächtige Seite, einen Marktplatz für gebrauchte Automobile und klickte herum, ohne auf den Bildschirm zu achten. Sein Blick ging am Bildschirm vorbei und war ständig auf die Eingangstür gerichtet. Nach langen zwanzig Minuten war es endlich soweit, ein stämmiger Mann mit schwarzen Haaren betrat das Geschäft, redete mit dem Angestellten am Tresen, bevor er nach hinten kam und rechts von ihm Platz nahm.
Leif Kepplers Blick fiel wie immer zuerst auf die Narbe am Kinn des Mannes.
„Ich habe schon gedacht, du versetzt mich, Akram.“
Beide Männer blickten stur auf ihre Bildschirme und würdigten sich keines Blickes.
„Es gab noch etwas zu erledigen.“
„Etwas, das mit uns beiden zu tun hat, hoffe ich. Es wird Zeit, dass etwas geliefert wird. Wir kommen immer weiter in Verzug.“
„Es ist schwierig. Ich kann dir noch nichts Konkretes sagen.“
„Es tauchen wöchentlich Hunderte Gestalten hier auf, du willst mir doch nicht weismachen, dass die alle sauber sind.“
„Natürlich sind sie das nicht, nur wie willst du sie herausfinden?“
„Ihr habt die Reisewege unter Kontrolle und die Security wird von euch geschmiert. Die werden doch in der Lage sein, die passen Subjekte genauer zu inspizieren, Taschenkontrollen, mal in die Handys schauen und so weiter. Das lässt sich alles begründen. Die Leute sind es doch gewohnt, dass man ihnen auf die Finger schaut. Und außerdem, es ist Teil der Abmachung und damit dein Problem. Ihr werdet euch mehr Mühe geben müssen.“
Akram Fadel nickte bedächtig.
„Was ist mit der Kleinen von neulich? Ich würde sie gern mal wiedersehen.“
„Sie ist nicht mehr hier.“
Eine Gruppe drei junger Männer kam in das Café. Sie waren offensichtlich betrunken, unterhielten sich lärmend und brachten Unruhe in den vorderen Bereich des Geschäftes. Keppler beobachtete sie missmutig, sie waren nicht die übliche Klientel. Als sie nach kurzer Diskussion mit dem Bärtigen nach hinten kamen, die Reihe der Computerplätze direkt vor ihnen belegten und die beiden Männer argwöhnisch beäugten, erhob sich Keppler. An Konfrontationen war er nicht interessiert. Im Vorbeigehen tippte er dem Kurden zweimal unauffällig zur Verabschiedung auf den Rücken, bezahlte beim Angestellten die aufgelaufenen Kosten und verschwand.
14. Befunde
„Der Hymenalring war ohne Befund.“
Claudia Harder leierte den Bericht herunter, den sie von Prof. Dr. Thiel erhalten hatte und Jan Eggert fragte sich, wann ErSieEs wohl endlich diesem Pullover mit dem Kaffeefleck einen Waschgang gönnen oder ihn wenigstens gegen ein anderes Wäschestück austauschen würde. Er rümpfte unbewusst die Nase und verdrängte die aufkommende Erinnerung an den Leichengeruch.
„Keine Verkrustungen oder frischeren Verletzungen im Scheidenbereich, man kann davon ausgehen, dass der Hymenalring schon längere Zeit nicht mehr vorhanden war.“
Während Sophie wissend nickte, schaute Sven Krauss fragend seine Chefin an, seinen Block mit den handschriftlichen Aufzeichnungen vor sich. Jan hatte einen ätzenden Kommentar auf der Zunge, aber Harry kam ihm zuvor.
„Sie war schon längere Zeit keine Jungfrau mehr, Hymenalring – gleich – Jungfernhäutchen.“
Der junge Kollege kritzelte hektisch etwas auf das Blatt.
„Der Vaginal- und auch der Analbereich weisen aber eine Vielzahl kleinerer Vernarbungen auf, die darauf hindeuten, dass sie schon längere Zeit zur Prostitution gezwungen wurde.“
„Wie alt war sie?“, wollte Jan wissen.
„Thiel schätzt sie auf zehn bis maximal zwölf Jahre alt, extrem untergewichtig, was möglicherweise absichtlich herbeigeführt wurde.“
Jan presste seine Faust, dass die Knöchel weiß hervortraten und ließ sie mit dem Ballen auf dem Tisch aufschlagen. Die Kollegen schauten erschrocken in seine Richtung.
„Ein Kind, verdammt noch mal. Und absichtlich unterernährt, um sie möglichst lange als Kind ausschauen zu lassen.“
Das war keine neue Masche, auf die sie hier stießen, sondern gang und gäbe in diesen Kreisen. Minimale Ernährung, um die Entwicklung zu verzögern, knabenhafte Figur, verspätete Regelblutung, verzögertes Wachstum der Brüste, um sie möglichst lange wie ein kleines Kind verkaufen zu können. Wie er diese Schweinereien hasste. Jetzt wurde es etwas Persönliches, er machte es ganz einfach dazu. Claudia Harder hüstelte, um sich die Aufmerksamkeit zu sichern, bevor sie fortfuhr.
„Zur ethnischen Herkunft wollte sich der Prof. nicht festlegen, Südeuropa, Vorderasien, genauer ging es nur mit einer Isotopenanalyse.“
Sophie runzelte die Stirn, Sven schaute sowieso schon die ganze Zeit aus, als würde er nur einen Bruchteil des Vortrages checken. Weil Harder keinerlei Anstalten machte, näherer Erläuterungen zu geben und auch Harry undurchdringlich wie immer dreinschaute, sah sich Jan veranlasst, den jungen Kollegen etwas dazu zu sagen.
„Mit einer Isotopenanalyse lässt sich genauer die Herkunft des Opfers bestimmen. Zähne, Haare, Fingernägel und Knochen speichern Informationen, wie und wo die Person gelebt hat, wovon sie sich ernährt hat, welchen Umwelteinflüssen sie ausgesetzt war. Aus der Untersuchung von Zahnschmelz lässt sich zum Beispiel auf das Klima und die vorherrschenden Durchschnittstemperaturen schließen. Unterschiedliche Isotope geben Aufschluss auf die Ernährung.“
Claudia Harder sah Jan genervt an.
„Darf ich weitermachen?“
„Aber sicher“, grinste Jan überschwänglich von einem Ohr zum anderen und blickte auf Sophie, aber die hatte nur Augen für die Chefin.
„Kommen wir zur Todesursache. Zu hoher Blutverlust, sie ist schlicht und ergreifend ausgeblutet. Bei den Verletzungen, von denen Thiel sprach, handelte es sich um Längsschnitte zum Öffnen der Pulsadern. Hinweise auf weitere Gewaltanwendung hat er nicht gefunden.“
„Aber wir betrachten das jetzt hoffentlich nicht als Suizid und Akte zu, oder?“
„Natürlich nicht bei diesen Gesamtumständen. Hier“, Harder reichte ein Blatt herum. „Unser Phantomzeichner hat ihr Gesicht rekonstruiert, sehr gut, wie ich finde.“
Читать дальше