Moretti schien jedoch nur einen Wimpernschlag verunsichert, dann betätigte er mit dem Daumen den Auslöser in seiner linken Hand. Denn was der Offizier nicht bemerkt hatte: Das Messer, das Moretti ihm entgegengeschleudert hatte, bestand nur aus einer Klinge. Der Griff war in seiner Hand verblieben und mit einem Auslöser versehen. Als die Klinge ihn verfehlt hatte, glaubte der Offizier, sie würde in die Wand hinter ihn fahren, doch dem war nicht so, denn einem Bumerang gleich, verlangsamte sich ihr Flug innerhalb eines Lidschlags und in dem Moment, da sie zurückschnellte, sorgte Moretti mit dem Auslöser in seiner Hand dafür, dass sie in sechs gleichgroße Einzelteile zerfiel, die dann mit einer rasanten Beschleunigung auf ihr Opfer zuhielten und mit großer Wucht in seinen Rücken und seinen Kopf eindrangen. Der Mann konnte lediglich noch erstickt aufstöhnen, dann flackerten seine Augen, jegliche Kraft wich aus seinem Körper und er sackte leblos hinter dem Fürsten zu Boden.
All dies sah Maurizio vor sich ablaufen und doch konnte er sich nicht bewegen. Stocksteif und reglos starrte er auf die Kämpfe vor ihm, während sich sein Gehirn auf einer wilden und grausamen Achterbahnfahrt befand.
Er hatte sich nicht getäuscht, seine düsteren Vorahnungen sich als wahr erwiesen, waren sogar noch schlimmer, als er es je befürchten konnte.
Heute war nicht der Tag, an dem er nach der Erledigung einer besonderen Aufgabe zurück zu seiner Familie kommen würde, um dort seine Seelenqualen zu lindern, heute war der Tag, an dem er seine Familie niemals wiedersah, weil er sterben würde.
Und Maurizio wusste, dass er weder weglaufen, noch den Fürsten von seinem Vorhaben abbringen, noch um Gnade für sich flehen konnte.
Neben großer Verzweiflung, spürte er tiefste Trauer darüber in sich, dass er sich nicht einmal von seiner Familie verabschieden durfte, und diese einfach verhinderte, dass er sich bewegen konnte.
Dann schlug der tote Körper des vierten und letzten Offiziers hinter dem Fürsten zu Boden und mit dem Blick auf das Schlachtfeld in der Kapelle, in der seine Kameraden hingerichtet worden waren, wusste Maurizio, dass auch seine Zeit gekommen war.
Moretti bewegte sich schnell und nahezu lautlos. Noch bevor sein letztes Opfer zu Boden klatschte, stand er bereits schräg hinter Maurizio, jederzeit bereit, einen Angriff abzuwehren.
Fürst Kuja, der die ganze Zeit über mit leerem, tränenfeuchtem Blick dagestanden hatte, richtete seine Augen nunmehr auf Maurizio. Sein Gegenüber konnte dort Trauer und Schmerz, aber auch echte Verzweiflung erkennen.
"Schwört, dass es meiner Familie gutgehen wird!" Maurizios Stimme war klar und kraftvoll, was ihn selbst überraschte.
Der Fürst nickte und legte seine rechte Hand auf sein Herz. "Ja, ich schwöre es! So habe ich es verfügt!"
Etwas an der Wortwahl des Fürsten irritierte ihn, doch wusste er in diesem Moment nicht zu sagen, was. "Eine letzte Bitte habe ich noch!"
Kuja nickte. "Natürlich!"
"Sagt mir, von welcher Gefahr ihr gesprochen habt!"
Der Fürst sah ihn einen Moment ausdruckslos an, dann nahm sein Antlitz einen gequälten Ausdruck an und Maurizio war sicher, dass er ihm diese Bitte schuldig bleiben würde. Unvermittelt aber machte Kuja zwei schnelle Schritte auf ihn zu und stand jetzt direkt vor ihm. Er schob seinen Kopf nach vorn, bis sich sein Mund dicht neben Maurizios linkem Ohr befand und dann flüsterte er ihm die Antwort auf seine Frage ins Ohr.
Maurizio spürte mit jedem Wort, wie sich sein Pulsschlag erhöhte, denn was der Fürst ihm da erzählte, war unfassbarer, als alles, was er sich je hätte vorstellen können. Seine Augen weiteten sich in schierer Panik und sein Atem stockte ihm ein ums andere Mal. Und als Kuja geendet hatte, war Maurizio klar, dass der Fürst nicht anders hätte handeln können, als er es getan hatte. Niemand, wirklich niemand, durfte je von der Existenz dieses grauenhaften Feindes erfahren. Dazu mussten alle Opfer gebracht werden, die dafür nötig waren, auch sein Eigenes. Als der Fürst seinen Kopf wieder zurückzog, musste Maurizio schwer schlucken. Er spürte kalten Schweiß auf seiner Stirn. "Gott vergib uns!" sagte er, dann ließ er sich auf die Knie fallen.
"Daran müssen wir fest glauben!" erwiderte der Fürst und nickte Moretti unmerklich zu. Der Kommandant der Leibwache machte daraufhin einen kleinen Schritt seitwärts, sodass er sich jetzt direkt hinter Maurizio befand und hob gleichzeitig seinen Schwertarm an.
"Aber in einem habt ihr gelogen, nicht wahr?" fragte Maurizio.
Während der Fürst ihn traurig ansah, legte Moretti seine linke Hand auf Maurizios linke Schulter.
"Wir werden keine Helden sein...!"
Moretti schob die Schwertspitze in Maurizios Nacken direkt vor die Verbindung zwischen dem siebten Hals- und den ersten Brustwirbeln und hielt die Klinge waagerecht.
Kuja schüttelte den Kopf. "Nein...!" Sein Blick wurde unendlich traurig. "...werden wir nicht!"
Als Maurizio die Antwort hörte, schloss er seine Augen, sein gesamter Körper entspannte sich und seine Gedanken waren bei seiner Familie.
Dann spürte er, wie Morettis Hand auf seiner Schulter zudrückte.
Einen Lidschlag später zuckte die Schwertscheide vor und zurück und Maurizio war tot.
Moretti ließ ihn los und sein Körper fiel seitlich zu Boden. "Ich kümmere mich um meine Männer!" sagte der Kommandant mit tiefer Stimme und als der Fürst ihm zunickte, wandte er sich ab, ging in die Kapelle und schloss die Tür hinter sich.
Kuja verharrte noch einen Augenblick mit dem Blick auf Maurizios Leiche, dann drehte er sich um und ging zurück zu dem alten Holztisch. Mit geschlossenen Augen atmete er mehrmals tief durch, während er von draußen dumpfe Kampfgeräusche hören konnte, sowie gedämpftes Stöhnen und erstickte Schreie. Als er seine Augen wieder öffnete, griff er mit behänden Fingern in seinen Umhang und holte zwei unscheinbare, kleine, gläserne Phiolen daraus hervor. Beide waren mit einer farblosen Flüssigkeit gefüllt. Kuja hielt sie vor seine Augen und betrachtete sie im Halbdunkel des Zimmers beinahe andächtig und ehrfürchtig.
Dann wurde die Tür hinter ihm aufgestoßen und Moretti kam herein.
Der Kommandant taumelte, sein Gesicht war schweißüberströmt, sein Körper mit Blut bedeckt. Seinen linken Arm hielt er fest an seine Seite gepresst, deutlich war eine tiefe Stichwunde in der linken Schulter zu erkennen.
Kujas Blick wurde finster. "Es waren gute Männer!" sagte er.
Moretti stöhnte. "Die Besten!" Als er seinen Fürsten ansah, hielt der ihm eine der beiden Phiolen hin. Der Kommandant nahm sie an sich. "Ich hoffe, dass unser Opfer nicht umsonst war!?" sagte er mit trauriger Stimme, dann krümmte er sich, weil ihm seine Verletzung offensichtlich große Schmerzen bereitete. Moretti stöhnte und atmete schwer, doch nach zwei Sekunden richtete er sich wieder auf.
Kuja hielt die zweite Phiole in der Hand. Er sah den Kommandanten in einer Mischung aus Verzweiflung und Entschlossenheit an. "Unser beider Tod wird alles Wissen über diese fremde Macht auslöschen. Darauf müssen wir vertrauen!" Er hob die Phiole an, als wolle er seinem Gegenüber zuprosten.
"Es war mir eine Ehre, euch zu dienen!" sagte Moretti.
"Dann lasst es uns vollenden!" Kuja hob die Phiole an seine Lippen, kippte sich den Inhalt in den Mund und schluckte ihn hinunter. Dann blickte er starr auf den Kommandanten.
Dieser aber zögerte ebenfalls nicht und tat es seinem Herrn gleich.
Für einige Augenblicke herrschte Totenstille im Raum, in denen sich der Fürst und sein Kommandant beinahe erwartungsvoll anstarrten.
Dann zuckte Morettis Körper plötzlich hart in sich zusammen, während der Soldat aufstöhnen musste.
Fast zeitgleich stöhnte auch Kuja, sein Gesicht verzerrte sich in Schmerz und seine Hände zuckten vor seinen Bauch.
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