Keine Sekunde nach dem Aufprall hatte sich der Inhalt der Phiole bereits so weit ausgedehnt, dass er die umliegenden Gebäude erreichte und hier mit dem Geräusch von prasselndem Regen auf Holz, Stein und Metall schlug.
Doch zeigte sich spätestens jetzt, dass die hier freigesetzte Substanz außergewöhnlich war, denn die festen Materien waren nicht in der Lage, sie abzublocken. Wie, als wäre ihre Molekularstruktur so grob, wie das Netz eines Fischers, durchdrang die feucht-glänzende Masse sie und trat in das Innere der Gebäude ein, füllte die Räume schnell aus und umhüllte alles, was sich in ihnen befand.
Alles ging so schnell, dass keine der anwesenden Personen auch nur mehr, als einen Augenblick hatte, sich über das unbekannte Phänomen zu wundern, bevor die Substanz auch ihre Körper vollständig durchdrang.
Einen Augenblick später erreichte sie die Außenmauern der Festung und der wundersame Nebel trat nach außen in die Ebene, wo er dann jedoch nach wenigen Metern seine Bewegungsenergie verlor und zu Boden sank, wo sein Glitzern allmählich erlosch.
Dabei entstand ein tiefes Rauschen, das nicht unbedingt laut, aber überraschenderweise doch weithin hörbar war und selbst in die Ohren von Maurizio und seinen Männern drang.
Augenblicklich stoppten sie ab und wandten sich in ihren Sätteln um. Die Festung war jetzt etwa zweihundert Meter von ihnen entfernt und sie konnten noch sehen, wie sich der wundersame Nebel zu Boden sank.
Dann überspannte für einen Wimpernschlag Totenstille die gesamte Ebene, bevor eine Art Knistern zu hören war. Zeitgleich schien die Festung von innen heraus in dem silbrig-glänzenden Licht der fremden Substanz zu leuchten. Für einen kurzen Moment war dies ein wundervoller Anblick, bevor das Knistern immer lauter wurde und sich scharfes Knacken, quietschendes Knirschen und dumpfes Knallen daruntermischte – und der einzelne Schrei eines unter furchtbaren Schmerzen leidenden Menschen , der den Männern durch Mark und Bein ging, während sich vor ihren Augen die Festung quasi aufzulösen schien.
Die Türme sanken in sich zusammen, dann die Gebäude und Mauern, bis am Ende nichts mehr übrigblieb, als winzige Staubkörnchen, die der plötzlich aufkommende Wind sogleich mit sich nahm.
Maurizio atmete einmal tief durch, dann wandte er sein Pferd wieder um. Als er in die Augen seiner Männer sah, konnte er einen gewissen Schockzustand, gepaart mit Unverständnis, teilweise Anflüge von Angst, sowie Unsicherheit in ihnen erkennen.
Maurizio konnte sie verstehen. Er selbst hätte sicherlich ähnlich empfunden, wenn er nicht bereits geahnt hätte, was ihn erwarten würde. Dennoch spürte er eine gewisse Unruhe in sich aufkommen, denn im Einsatz gesehen hatte er diese Waffe bisher noch nicht. Und die Realität war doch anders, als die Erklärungen, die man ihm bei Übergabe der Phiole gegeben hatte.
Hier waren innerhalb von nicht einmal zwei Minuten über fünfzig Menschenleben und etliche Tiere getötet, sowie eine komplette Festung dem Erdboden gleichgemacht worden, ohne auch nur – abgesehen von der Phiole – einen Schuss abzugeben. Und das auf eine Weise, von der Maurizio nicht einmal im Ansatz verstand, wie sie funktionierte, was ihn gerade – für seine Männer nach außen hin jedoch nicht sichtbar – nervös machte.
Und weil er selbst Probleme hatte, mit dieser Sache umzugehen, blieb er stumm, gab seinem Pferd die Sporen und ritt weiter nach Nordwesten davon.
Dabei begann ein anderes Gefühl seine Nervosität zu überdecken: Genugtuung!
Er hatte den Befehl ordnungsgemäß und vollständig ausgeführt und damit nicht nur das Überleben seiner Familie gesichert, sondern ihm und auch all seinen Männern einen außergewöhnlichen Lohn eingebracht.
Das Wiedersehen mit seiner Familie erfreute sein Herz für einen Augenblick, dann aber spürte er wieder eine eiskalte Gänsehaut, die seinen Rücken hinaufkroch, als er nochmals die Bilder der zerfallenden Festung vor seinem inneren Auge aufkommen sah und sich wieder diese nervöse Unruhe in ihm breitmachte.
Im nächsten Moment trieb er seinen Schimmel noch weiter an, als hoffte er, den dunklen Gedanken so entfliehen zu können.
Doch das war aussichtslos…
Das dunkle Gefühl in seinem Herzen begleitete Maurizio durch die ganze Nacht. Und da er wusste, dass er so niemals Schlaf finden würde, trieb er sich und seine Männer immer weiter an.
Sie ritten ohne Unterlass und als die Morgendämmerung hereinbrach, hatten sie das östliche Hügelland hinter sich gelassen und ritten in die Ebene ein, in deren nordwestlicher Ecke sich Alimante, die prächtige Hauptstadt des Fürstentums, befand.
Während sie Meile um Meile näherkamen, konnten sie sehen, wie sich die aufgehende Sonne in den Dächern der Stadt spiegelte und sie in ein funkelndes Meer aus tausend Farben verwandelte, das die Männer, obwohl schon etliche Male gesehen, wieder tief beeindruckte, aber auch mit Stolz erfüllte, denn schließlich waren sie alle ein Teil dieses Fürstentums.
Als sie nur noch wenige hundert Meter von der Stadt entfernt waren, gab Maurizio das Zeichen, ihren Ritt zu verlangsamen und er selbst ließ seinen Schimmel locker austraben.
Dabei kam auch sein Geist etwas zur Ruhe und an die Stelle von Nervosität und Unsicherheit rückte die Vorfreude darauf, seine Familie wiederzusehen.
Doch nur einige Augenblicke später konnte er ausmachen, wie das südliche Stadttor geöffnet wurde und ein einzelner Reiter daraus hervorkam, der direkt auf sie zuhielt.
Maurizio blickte mit zunehmender Anspannung auf ihn. Wenig später konnte er ihn erkennen. Es war Moretti, der engste Vertraute des Fürsten und Kommandant seiner Leibgarde. Die Tatsache, dass dieser Mann und dann auch noch allein auf sie zukam, deutete auf eine ernste Angelegenheit hin und Maurizio musste seine Gedanken an seine Familie verdrängen.
Dann hatte Moretti sie erreicht.
Maurizio ließ seinen Trupp anhalten. Er selbst ritt etwa zehn Meter weiter und traf dort auf den Kommandanten der Leibgarde.
Moretti war ein wahrer Bär von einem Mann und mindestens zwei Meter groß. Sein gesamter Körper war austrainiert und übersät mit stahlharten Muskelpaketen. Seinen Brustkorb konnte ein Mann allein nicht umfassen. Dennoch wirkte Moretti nicht ungelenk oder kantig, sondern eher geschmeidig und elegant. Sein weißes Kopfhaar war sehr kurz geschnitten, sein Vollbart, bis auf ein etwas längeres Stück direkt unter dem Kinn, ebenfalls. Seine Haut war olivfarben und glänzte matt im Sonnenlicht. Unzählige Narben waren auf seinem Körper zu erkennen, die sich scharf von seiner dunklen Haut abhoben. Das Gesicht jedoch war ebenmäßig und beinahe makellos, seine Züge wirkten fein und fast schon sinnlich. Aus wachen, eisgrauen Augen sah er zu Maurizio hinüber. Sein Blick war dabei offen, aber ernst.
"Kommandant!" grüßte Maurizio und nickte ihm zu.
"Hauptmann!" erwiderte Moretti mit tiefer Stimme, aber regloser Miene.
"Eure Anwesenheit ist... überraschend !" meinte Maurizio. "Stimmt etwas nicht?"
Moretti schüttelte kaum merklich den Kopf. "Es ist alles bestens!" Seine Miene jedoch blieb weiterhin ernst. "Der Fürst hat mich lediglich beauftragt, dich und deine Männer zu ihm zu bringen!" Dabei deutete er rechts hinter Maurizio.
Als der sich herumdrehte, konnte er in etwa einem Kilometer Entfernung eine Baumgruppe erkennen. Es waren nur wenige Dutzend Exemplare, aber es waren mächtige Eichen mit riesigen Kronen. Maurizio wusste, dass sie einen großen Platz in ihrer Mitte überspannten, in dem seit Jahrhunderten eine kleine, steinerne Kirche stand. Es war die Kapelle der heiligen Katarina , doch bei den Einwohnern von Alimante war sie nur als Kriegskapelle bekannt. Immer dann, wenn dem Fürstentum ein Feind entgegentrat und es zu einer kriegerischen Auseinandersetzung kam, hatten die Fürsten stets in der Nacht vor der Schlacht hier um den Beistand des Herrn gebetet.
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