Nachdem der Trupp durch die Eingangstore in das Innere geritten war, wurden diese wieder verschlossen.
Während die müden Männer von ihren Pferden oder Wagen stiegen, erkannten sie den Soldatentrupp um Maurizio. Einige waren sichtlich überrascht, sie zu sehen, andere blickten ratlos.
Dann trat der Anführer der Männer vor ihn. Es war ein großer, schlanker Glatzkopf in seinem Alter. Sein Name war Arturo.
„Wer bist du?“ fragte er mit ernstem Gesicht.
„Mein Name ist Maurizio! Ich grüße dich, Arturo!“ Maurizio ließ seinen Blick über die anderen schweifen. „Dich und deine Männer!“
Arturo nickte und ließ seinerseits den Blick über Maurizios Männer schweifen. „Eure Anwesenheit hier ist… überraschend! “ Er fixierte sein Gegenüber. „Ist das positiv oder negativ?“
Maurizio lächelte. „Positiv! Nur positiv, Arturo!“ Er legte seine rechte Hand auf Arturos Schulter und sah ihm geradeheraus in die Augen. „Fürst Kuja hat uns hierher gesandt, um euch auf eurem weiteren Rückweg nach Alimante Geleitschutz zu geben!“
„Geleitschutz?“ Arturo war sichtlich überrascht.
Maurizio aber nickte. „Es treiben sich neuerdings Räuberbanden in dieser Gegend um. Übles Pack! Mit denen ist nicht zu spaßen!“ Maurizio grinste wieder und beugte sich ein wenig zu Arturo. „Aber mit uns noch viel weniger, was?“
Arturo lächelte sofort und nickte, denn jeder in diesem Land wusste um die Kampfkraft und den Mut der fürstlichen Garde. „Na dann! Dank an den Fürsten für seine Weitsicht. Wir nehmen eure Unterstützung gern an!“ Er wartete, bis auch Maurizio wohlwollend nickte. „Aber wir haben heute einen weiten Weg zurückgelegt. Meine Männer sind müde und hungrig. Gönnt uns hier ein ordentliches Nachtlager, dann können wir schon morgen Abend in Alimante sein!“
„So sei es!“ Maurizio zog Arturo an seine Seite und führte ihn in das Haupthaus. „Ich habe bereits eine warme Mahlzeit für euch in Auftrag gegeben!“
Bei seinen Worten stoppte Arturo ab und schaute Maurizio beinahe ehrfürchtig an. „Dafür gebührt euch ein ganz besonderer Dank!“
Maurizio grinste süffisant und senkte seine Stimme. „Und ich glaube, ich habe vorhin eine kleine Flasche Amareé in meinem Gepäck entdeckt. Ich denke, sie wird uns nach dem Mahl bei einer guten Zigarre leidlich munden!“
Jetzt war Arturo vollends baff. „Eure Anwesenheit hier gefällt mir wirklich von Minute zu Minute immer besser!“ Und damit betraten beide, gefolgt von ihren Männern, wohlgelaunt das Haupthaus.
*
Drei Stunden später war es beinahe totenstill in der Festung.
Arturos Männer waren in der Tat sämtlich erschöpft genug, um nach einem ausgiebigen Mahl auf dem Boden der Haupthalle schnell in einen tiefen und festen Schlaf zu verfallen.
Die Mönche und Bauern waren es ohnehin gewöhnt, ihr Nachtlager kurz nach Sonnenuntergang aufzusuchen, sodass man auch hier alsbald Schnarchgeräusche hören konnte.
Arturo selbst vermochte sich noch einige Zeit länger wachzuhalten. Obwohl er nur ein Gläschen von dem edlen Amareé trank, übermannte ihn der Schlaf schließlich beim Genuss der Zigarre, die ihm Maurizio gegeben hatte.
Der Hauptmann hatte es sich in der Tat nicht nehmen lassen, auch ein Gläschen Amareé zu trinken. Er konnte es sich auch leisten, denn die Zigarre, die er seinem Gegenüber gegeben hatte, enthielt nicht nur die üblichen Bestandteile, sondern auch ein Schlafmittel.
Und so wartete er geduldig, bis Arturo zur Seite sank, sich ausstreckte, ihm schließlich die Augen zufielen und tiefe Atemzüge zu hören waren.
Erst dann erhob er sich und verließ leise den großen Schlafraum im Haupthaus der Festung.
Als er die Tür öffnete, schlug ihm ein Schwall kalte Luft entgegen. Maurizio huschte schnell hindurch und schloss sie wieder. Es war mittlerweile Nacht geworden, der Himmel war wolkenlos, der Vollmond strahlte milchig weiß, es war beinahe windstill.
Maurizio ging in die Mitte des Burgplatzes, von wo aus er alle Gebäudefronten und Wehrgänge überblicken konnte. Es war jedoch niemand zu sehen.
Maurizio verharrte für einige tiefe Atemzüge unbeweglich mit auf dem Rücken verschränkten Armen und geschlossenen Augen und lauschte dem Klang der Stille.
Dann wandte er sich um und konnte am Tor einen seiner Offiziere erkennen. Der Mann nickte ihm zu und Maurizio ging zu ihm.
Wortlos öffnete der Offizier die kleine Tür, die in das Tor eingelassen war. Maurizio trat hindurch, der Mann folgte ihm und schloss die Tür wieder.
Draußen wartete bereits der Rest seines Trupps mit den Pferden. Trotz allem herrschte auch hier Stille. Maurizio ging zu seinen Männern und nickte einem weiteren Offizier im Vorbeigehen zu. Während der Mann sich daraufhin an einem großen Beutel zu schaffen machte, der an seinem Pferd befestigt war, trat Maurizio an seinen Männern vorbei. Er verschränkte dabei seine Arme wieder auf dem Rücken und blickte ruhig über das sich vor ihm erstreckende Plateau nach Norden. Dabei war er fasziniert von der im Mondlicht glitzernden Oberfläche des nahegelegenen, kleinen Bergsees, während er im Hintergrund die wohlbekannten Geräusche einer zum Einsatz bereitgemachten Waffe hörte.
„Fertig!“ sagte der Offizier schließlich.
Maurizio drehte sich um und nahm die Armbrust, die ihm entgegengestreckt wurde, wortlos entgegen. „Aufsitzen!“ befahl er. Während der Offizier tat wie geheißen, drückte Maurizio den Schaft der Waffe gegen seine linke Seite und fischte dann mit seiner rechten Hand eine kleine, vielleicht zehn Zentimeter lange, fingerdicke Phiole aus der Innentasche seines ledernen Wamses. Sie war aus Glas und durchsichtig und in ihrem Inneren war eine dunkle, zähe Flüssigkeit zu erkennen, die träge hin und her schwappte.
Maurizio legte sie vorsichtig in den Waffenschaft. Bevor er anlegte, schaute er einmal in die Runde, wobei sein Blick so durchdringend war, dass jeder seiner Männer das Gefühl hatte, er würde ihm direkt in die Seele schauen. „Es gibt Dinge, die getan werden müssen!“ sagte er dann mit klarer, fester Stimme. „Zum Wohle einer größeren Sache. Gott weiß das und wird uns unsere Sünden heute Nacht vergeben!“
Ohne auf eine Antwort zu warten, wandte Maurizio sich ab und machte einen Schritt auf das verschlossene Burgtor zu.
Wieder atmete er einmal tief durch, dann legte er die Waffe mit einer schnellen Bewegung an, hielt sie in einem steilen Winkel in den Himmel und gab die Phiole mit einem hohlen Klacken des Abzugs frei.
Das Projektil stieg beinahe senkrecht in den Himmel.
Maurizio sah der Phiole noch einen Augenblick hinterher, dann ließ er die Armbrust sinken, drehte sich um, ging zu seinem prächtigen Schimmel, den einer der Offiziere für ihn bereithielt, schwang sich mit einer schnellen, flüssigen Bewegung in den Sattel und verstaute die Waffe an der rechten Seite.
Dann blickte er wieder in den Himmel, wo das Projektil gerade den Scheitelpunkt der Flugbahn erreicht hatte und sich zu Boden senkte, wo es direkt auf die Mitte des Burgplatzes zuhielt.
Mit einem letzten tiefen Atemzug bei geschlossenen Augen verharrte Maurizio für einen Augenblick, dann riss er seinen Schimmel herum und gab ihm die Sporen. Seine Männer taten es ihm gleich und der ganze Trupp jagte in gestrecktem Galopp in Richtung Nordwesten über die Ebene.
Zwei Sekunden später schlug die Phiole mit einem dumpfen, kaum hörbaren Geräusch in den festgestampften Erdboden in der Mitte des Burgplatzes, wo sie augenblicklich mit einem scharfen Knacken zerbarst und ihren Inhalt mit einer derart immensen Wucht in alle Richtungen freigab, wie es kaum für möglich schien.
Innerhalb eines Wimpernschlages hatte sich eine silbrig-glänzende Kugel von sicherlich fünf Metern Durchmesser über der Aufschlagstelle gebildet, die sich wie die Druckwelle einer dumpfen Explosion kreisförmig ausbreitete, dabei die Geschwindigkeit eines Orkansturms besaß und ein tiefes, dunkles Summen verursachte.
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