Es war eine jahrhundertealte Tradition, doch hatte sie Maurizio noch nie erlebt, denn das Fürstentum lebte nun schon weit über dreißig Jahren in friedlicher Koexistenz mit seinen Nachbarn.
Hat sich daran womöglich während unserer Abwesenheit etwas geändert? fragte er sich insgeheim. Die Tatsache, dass der Fürst dort auf sie wartete, erzeugte eine erneute Unruhe in ihm, doch sprach er Moretti nicht darauf an, sondern gab seinem Trupp Anweisung, dem Kommandanten der Leibgarde zu folgen.
Der Ritt zur Kapelle dauerte einige Minuten, da es Moretti nicht sonderlich eilig zu haben schien. Der Kommandant drehte sich nicht einmal um, doch konnte er sicher sein, dass ihm der gesamte Trupp folgte.
Durch die nahezu komplette Abschirmung durch die mächtigen Eichen konnten sie das kleine Steingebäude erst sehen, als sie quasi schon davorstanden.
Während Moretti anhielt und abstieg, erkannte Maurizio neben dem schneeweißen Hengst des Fürsten, noch ein halbes Dutzend weiterer Pferde. Er wusste sogleich, dass sie den anderen Mitgliedern der Leibgarde gehörten
Irgendetwas stimmt hier nicht , dachte er sofort. Dabei machte ihn nicht die Existenz der anderen Pferde nervös, sondern die Tatsache, dass ihre Besitzer nirgendwo zu sehen waren.
Moretti wartete stumm, bis alle Männer des Trupps eingetroffen und abgestiegen waren, dann sah er Maurizio wieder mit ernster Miene an, nickte ihm zu und deutete schließlich an, dass ihm alle ins Innere der Kapelle folgen sollten.
Alle? Diese Frage schoss ihm sofort in den Kopf. Dabei befiel ihn wieder dieses düstere Gefühl, das ihn schon den gesamten Rückweg begleitet hatte. Gleichzeitig dachte er an seine Familie und an die Vorfreude, die er dabei verspürt hatte. War das zu früh gewesen?
Wenige Augenblicke später betrat er das Innere der Kapelle. Hier herrschte ein wechselhaftes Dämmerlicht. Die Bäume ließen nur wenige Sonnenstrahlen durch ihr Blätterdach, die aber blitzten fast wie Schwertschneiden auf.
Die Kapelle bestand nur aus einem einzigen, großen Raum ohne versteckte Ecken und Nischen. Gegenüber der Eingangstür befand sich ein grober, steinerner Altar, auf dem eine handgefertigte Decke lag. Eine Vase mit frischen Blumen und ein irdener Kelch standen darauf. In der Mitte lag eine aufgeklappte Bibel.
Hinter dem Altar gab es eine deckenhohe, massive Holzwand, auf der einige Szenen aus der Bibel malerisch dargestellt waren. Die satten Farben und die sehr sorgfältige und gelungene künstlerische Ausgestaltung waren mittlerweile verblasst.
Vielleicht sollten diese Bilder mal wieder erneuert werden , dachte Maurizio, während sein Blick auf die Tür fiel, die nach hinten abgewinkelt in der Holzwand eingearbeitet war und hinter dem Altar einen kleinen abgeschiedenen Raum erzeugten.
Da Maurizio den Fürsten nirgendwo sehen konnte, nahm er an, dass er sich dort drinnen aufhalten musste.
Doch etwas Anderes verstärkte den Kloss in seinem Hals zusätzlich: Es war schon über ein Jahr her, dass Maurizio diese Kapelle mit seiner Familie besucht hatte, doch war er sicher, dass in diesen Raum vor den Altar Sitzbänke gehörten. Jetzt aber war nichts davon zu sehen, der komplette Raum war absolut leer. Wieder dachte er an seine Familie und an die Freude, sie wiederzusehen. War er zu voreilig damit gewesen?
Mittlerweile waren alle Männer von Maurizios Trupp in der Kapelle versammelt.
Als Moretti dies beinahe ausdruckslos registrierte, wandte er sich an Maurizio. "Folge mir!" sagte er. "Du und deine Offiziere!"
Maurizio war nicht wirklich überrascht, denn er hatte nicht damit gerechnet, dass der Fürst jetzt hier in diesen fast schon überfüllten Raum treten würde, um mit ihnen zu reden. Dass aber nicht nur Maurizio, sondern auch seine vier Offiziere, Moretti folgen sollten, irritierte ihn.
Doch er hatte keine Zeit für weitere Überlegungen, denn schon hatte Moretti die Tür seitlich des Altars erreicht und öffnete sie. Maurizio deutete dem Rest des Trupps an, hier zu warten, dann trat er mit seinen vier Offizieren an Moretti vorbei, der reglos dastand und ausdruckslos in die Kapelle zurückschaute. Erst, als die fünf Personen an ihm vorbei waren, gestattete er sich eine Regung. Deutlich sah man, wie sich sein Blick noch einmal verdunkelte und seine Kiefer aufeinander mahlten. Dann kräuselte er die Lippen, als habe er auf eine Zitrone gebissen.
Schließlich wandte er sich ab, folgte den Männern in das Innere des kleinen Zimmers und schloss die Tür hinter sich.
Der Raum besaß keine Fenster, dafür aber eine gläserne Kuppel, deren Scheiben zwar verschmutzt waren, aber dennoch für einigermaßen ausreichendes Licht sorgten, dass der einzige Anwesende am anderen Ende zu erkennen war.
Fürst Kuja stand ihnen abgewandt, mit gesenktem Kopf und mit auf dem Rücken verschränkten Händen vor einem alten, massiven Holztisch, auf dem etliche Utensilien für durchzuführende Messen lagen, die allesamt deutlich verstaubt waren. Er trug eine dunkle Reiterhose, sowie ein leichtes, weißes Leinenhemd. Ein dünnes Wams aus dunkelblauem, edlem Stoff hing über einer Stuhllehne neben dem Tisch, ebenso wie der Gürtel mit dem Säbel des Fürsten.
"Exzellenz?" sagte Moretti.
Für einen Augenblick schien es, als würde der Kommandant keine Reaktion erhalten, als der Fürst doch plötzlich seinen Kopf anhob. "Moretti?"
"Ich bringe euch Maurizio und seine Offiziere, wie ihr befohlen habt!"
Fürst Kuja drehte seinen Kopf ein wenig und ein knappes Nicken war zu sehen. Daraufhin trat Moretti zwei Schritte zurück.
Direkt vor die Ausgangstür , erkannte Maurizio, doch dann hörte er deutlich einen langen, tiefen Atemzug des Fürsten, kurz bevor der sich zu ihnen herumdrehte.
Fürst Kuja war ein stattlicher Herrscher.
Nur wenig jünger, als Maurizio selbst, war er stets ein durchtrainierter, schlanker und auch kampferprobter Mann gewesen. Sein Mut und sein Pflichtbewusstsein hatten ihm den Respekt der Truppen eingebracht, seine Großherzigkeit und Besonnenheit die Liebe seines Volkes.
Mehr noch: Seine Vermählung mit Mariella, der Tochter eines Kaufmanns und somit eine Frau aus dem gemeinen Volk, besonders aber die Tatsache, dass es eine echte Liebeseirat war, hatte die Menschen tief berührt und sie noch enger an das Herrscherhaus geschweißt. Der erste Spross dieser Liebe, Zwillinge, um genau zu sein, würden bald das Licht der Welt erblicken.
Obwohl Kujas Herrschaft als Fürst kaum ein Jahr andauerte, hatte er das gesamte Volk hinter sich und seiner Familie und es gab eigentlich nicht den geringsten Zweifel, dass er das Land in eine weiterhin glorreiche, friedliche und für alle glückliche Zukunft führen würde.
Auch Maurizio liebte seinen Fürsten - mehr noch zwar seine Fürstin, die seiner eigenen Ehefrau sehr ähnlich war - und war stolz, hier leben zu dürfen. Stets hatte er Kujas Vater und jetzt auch ihm treu gedient. Natürlich hatte er nicht vor, auf Dauer der Mann für besondere Aufgaben zu bleiben, da diese ihm, wie der aktuelle Fall zeigte, zunehmend Seelenschmerz verursachten. Doch mit der Entlohnung, die man ihm versprochen hatte, hatte er ohnehin ausgesorgt und er nahm sich fest vor, alsbald einen Nachfolger auszubilden.
Als er Fürst Kuja jetzt aber von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand, erschrak er beinahe.
Er konnte sich nicht entsinnen, seinen Herrscher jemals so erschöpft, ja fast ausgezehrt, und so ernst, sogar düster, blicken gesehen zu haben.
Irgendetwas stimmte ganz gewaltig nicht , dessen war sich Maurizio jetzt absolut sicher.
"Wurde mein Befehl ausgeführt?" Kujas Worte waren leise gesprochen und klangen rau. Von der sonst so klaren und kräftigen Stimme war nichts zu hören. Sein Blick dabei war unstet, nervös und er selbst wirkte fahrig. Normalerweise war Fürst Kuja dafür bekannt, seinen Gesprächspartner mit seinen tiefbraunen Augen gnadenlos zu fixieren. Heute war davon nichts zu bemerken.
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