Sich der Tatsache bewusst, dass es kein Entkommen gab, rauften sich die Einwohner zusammen und stellten eine Bürgerwehr auf, die den Täter in der Dunkelheit stellen und töten sollte.
Anfangs schien es so, als wäre allein ihre Anwesenheit dafür verantwortlich, dass die Morde endeten, doch nach drei Wochen ohne Verlust, wütete das Grauen nur umso schlimmer. Wenig später gelang es einem Trupp der Bürgerwehr, den Täter auf frischer Tat zu stellen. Deutlich war das Scheppern einer aus den Angeln gerissenen Tür zu hören. Als die Männer das Haus erreicht hatten, drangen furchtbare Schreie der Bewohner nach außen, die das grauenhafte Schicksal, das sie gerade ereilte, nur erahnen ließ. Doch es waren auch andere Geräusche zu hören: Ein tiefes Grollen, ein wildes Schnaufen, ein Knurren - und dann ein unglaublich gespenstisches Heulen, bevor Totenstille eintrat.
Mit zitternden Knien und schweißnassen Händen arbeitete sich der Trupp zum Haus vor, als urplötzlich ein gewaltiger, schwarzer Schatten heraustrat und sie den wohl größten Wolf erblickten, den sie je gesehen hatten. Sein schwarzes Fell glänzte beinahe ölig im Mondlicht und wirkte so hart und borstig, wie Draht. Seine Augen loderten tiefrot und hasserfüllt in ihren Höhlen, das gewaltige Maul starrte vor rasiermesserscharfen Zähnen, an denen noch immer Blut und Fleisch seiner Opfer klebten. Die Schulterhöhe dieser Bestie lag bei fast zwei Metern und übertraf damit alles, was je zuvor gesichtet worden war. Das Tier besaß mächtige Klauen an seinen Beinen und als es seine Widersacher vor sich erkannte, ging es sofort knurrend und zähnefletschend in Angriffsposition.
Geschockt über den Anblick schienen die Männer erst erstarren zu wollen, doch gelang es ihnen tatsächlich, ihre Waffen zu heben und zu feuern. Mindestens dreißig Schuss konnten sie auf die Bestie abgeben, doch keiner davon fand sein Ziel. Es war, als würde das Tier ein Schutzschild umgeben, das immer wieder rot aufflammte, wenn es eine Kugel abfing und so verhinderte, dass der Wolf Schaden nahm.
Mit einem wilden Brüllen sprang das Monstrum vorwärts, griff zwei der Männer an und tötete sie durch gezielte Bisse in den Hals innerhalb weniger Augenblicke. Einen dritten packte es am Bein und zerrte es mit sich in den Wald, ohne dabei viel an Geschwindigkeit einzubüßen. Die schrillen Schreie des Opfers hallten noch weithin nach, bevor sie auf bestialische Weise in der Finsternis verstummten und erneut ein gespenstisches Heulen den Männern eine eiskalte Gänsehaut über den Rücken kriechen ließ, während es drohend und unheilvoll über der Stadt verklang.
Der Aufruhr am Morgen war riesig, der Schrecken gewaltig. Die Ausführungen der überlebenden Männer sorgten für Entsetzen, Zweifel und Unsicherheit, doch konnte und wollte niemand ihr Wort ignorieren.
Was aber sollte man gegen eine derartige Kreatur denn nur ausrichten? Einer offensichtlichen Schöpfung des Bösen in Größe, Kraft und Verteidigung! Wenn sie immun gegen Waffen war, was konnte man dann noch tun? Oder brauchte man lediglich größere Waffen? Oder war sie ein Fluch, der über die Bewohner von Mintia gekommen war und somit nicht dazu gedacht, vernichtet zu werden? Mussten sie alle sich hier einer Prüfung unterziehen und nur das Schicksal entschied über Tod oder Leben? Womöglich forderte hier aber auch eine uralte Macht ihren einst angestammten Platz wieder ein und sie waren dazu genötigt, Mintia für immer zu verlassen, wenn sie diesem Wahnsinn nicht auch zum Opfer fallen wollten?
Die Liste der Fragen war unendlich lang und eine wirkliche Lösung schien nicht in Sicht.
Zumindest nicht, bis Torkal, einer der ältesten Bauern der Stadt, das Wort ergriff. "Was ist…?" begann er und konnte schon erste mitleidige und genervte Blicke der Umstehenden erhaschen, weil man ihm mit seinen dreiundachtzig Lebensjahren keinen klaren Gedanken mehr zutraute. "…wenn die Kreatur eine Schöpfung der Finsternis ist…?"
"Da hatten wir schon, Torkal!" schalt ihn Bürgermeister Bimus und verdrehte die Augen.
Doch der Alte hatte noch nicht geendet. "…und wir spezielle Waffen benötigen, um sie zu vernichten?"
" Spezielle ...Waffen?" Die anderen sahen ihn überrascht, aber auch verwirrt an.
Torkal nickte. "Oder besser: Besondere Kräfte! "
" Besondere Kräfte? " Bimus Blick verdunkelte sich und er fixierte den Alten. "Torkal, wovon redest du?"
Der Alte blickte einmal mit großen Augen in die Runde. Dabei huschte ihm zunächst ein dünnes Lächeln über die Lippen, dann aber wurde sein Gesichtsausdruck ernst und hart. "Von… Magie! "
*
Im ersten Moment hätte es beinahe einen Tumult im Sitzungssaal gegeben, weil alle den Alten für vollkommen verrückt hielten und sie ihren Unmut über seine Äußerungen, aber auch ihre Ohnmacht über die schlimme Situation an ihm auslassen wollten.
Doch Bimus kannte Torkal schon seit Jahrzehnten und irgendetwas in den Augen des Alten sagte ihm, dass dieser eben nicht den Verstand verloren hatte.
Also hakte er nach.
"Wir besorgen uns einen Magier!" erklärte Torkal.
"Magier existieren nicht!" wehrte Bimus daraufhin ab und war ziemlich enttäuscht, weil er sich offensichtlich doch geirrt hatte. "Die Geschichten über sie gehören allesamt ins Reich der Fantasie!"
Doch Torkal schüttelte den Kopf. "Tun sie nicht!"
"Ach ja? Und woher weißt du das?"
"Weil ich einen Magier kenne und…!" Ein Lächeln huschte über seine Lippen. "…sogar mit ihm verwandt bin!"
*
Torkals Enkeltochter Talina lebte in Alimante und war verheiratet mit Arturo. Offiziell war dieser Mann ein Baumeister, doch in Wahrheit beherrschte er die Kunst der Magie.
Torkal bot an, ihn zu benachrichtigen, wenn…
"Was, wenn?" fragte Bimus.
"…wir uns im Klaren darüber sind, dass seine Dienste ihren Preis haben werden!"
Bimus schaute in die Runde. Tatsächlich konnte er in vielen Gesichtern aufkommenden Geiz erkennen, doch überall sah er auch die nackte Angst. "Ich denke nicht, dass wir um unser Leben feilschen werden!" erklärte er daraufhin. "Nimm Kontakt zu ihm auf und sorge dafür, dass er uns so schnell, wie möglich, zur Hilfe eilt!"
*
Zehn Tage später ritt Arturo in Mintia ein. Und er war nicht allein: Er hatte seine Frau Talina, sowie seine acht Jahre alte Tochter Mirani und seinen zwei Jahre alten Sohn Jacob mitgebracht. Er war, wie auch seine Frau, der Meinung, die Reise hierher sei ein trefflicher Grund für einen Besuch bei Talinas Familie.
Nachdem sie Torkal aufgesucht hatten, fand eine Besprechung mit Bimus und anderen Stadtbewohnern im Versammlungsraum statt, wo man Arturo eingehend über das Problem informierte.
Der erklärte sich letztlich - auch angesichts des ihm angebotenen Lohns - dazu bereit, die Stadt von ihrem Joch zu befreien. Aufgrund seiner magischen Fähigkeiten war sich Arturo sicher, dass die Aufgabe kein größeres Problem darstellen würde.
Allerdings sorgte er dafür, dass seine Frau und seine beiden Kinder zunächst in den etwa sechs Kilometer entfernten Nachbarort Durant weiterreisten, wo Talinas Mutter Zirani wohnte, um sie in Sicherheit zu wissen.
Nachdem das erledigt war, machte sich Arturo sogleich ans Werk. Er legte einige magische Markierungen aus, die das Monstrum anlocken sollten, indem er Stücke eines geschlachteten Schweins mit Bannsprüchen belegte, sie aber gleichsam mit magischer Energie speiste.
Wenn das Untier vom Geruch des Blutes angelockt werden würde, würde es keine Chance haben, die begehrte Beute zu fressen, wohl aber die magische Signatur aufnehmen, die es direkt zu Arturo und dem Hinterhalt führen würde, den er hierfür auf dem Marktplatz aufgebaut hatte.
So zumindest war der Plan!
Doch weder am ersten Tag, noch am zweiten ließ sich die Bestie blicken.
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