Kuja erkannte, dass er sich selbst sah, jetzt, in diesem Augenblick.
Er sah, wie seine Gesichtsmuskeln zuckten, wie sein Kopf hin und her trieb, seinen flachen, stoßweisen Atem, hörte sein Stöhnen und…oh Gott, er sah etwas auf seiner Haut. Am rechten Oberarm, auf der linken Brust. Doch…nein, nicht auf der Haut. Unter der Haut! Ja, ganz deutlich konnte er sehen, wie sich die Haut dort an einigen Stellen hob, während sich darunter kleine, wie Würmer anmutende Objekte schlängelten.
Augenblick beschleunigte sich Kujas Puls wieder, das Bild wurde verzerrt.
Was war das? Was sah er da? Urplötzlich stockte sein Atem. Er wusste genau, was das war! Die fremde Macht. Die, die ihn in den Lichtspiegel gerissen hatte. Die, die ihn wieder ausgespuckt hatte und er sich an nichts erinnern konnte, was in dieser Zeit mit ihm geschehen war, außer, dass er eine Angst in sich verspürte, die er heftiger, grausamer und schmerzhafter noch niemals zuvor erlebt hatte. Die Macht, die ihn hatte Tizian töten lassen. Und Giovanni. Und die letztlich verhindert hatte, dass er selbst sich der Morde an ihnen schuldig sprach, sondern stattdessen ein unschuldiges Opfer in einen grausamen Tod schickte. Um Himmels willen! Kuja hatte gehofft, so sehr gehofft, dass all dies hinter ihm lag. Doch mit dem Blick auf diese widerlichen Würmer unter seiner Haut, von denen er jetzt sogar an seiner linken Schläfe einen weiteren ausmachen konnte, wurde ihm eiskalt bewusst, dass die Hölle in ihm nie präsenter war!
Sein Puls hämmerte in einem irrsinnig schnellen und harten Rhythmus gegen seine Schädeldecke. Die Bilder wurden förmlich zerrissen und explodierten schließlich.
Einen Lidschlag später saß Kuja mit weit aufgerissenen Augen und rasselndem Atem kerzengerade auf dem Bärenfell und verspürte eine grauenhafte Panik in sich, die sein Gehirn für Augenblicke leerfegte.
Dann aber erinnerte er sich sofort wieder an die Bilder aus seinem Traum und mit einem erschrockenen Stöhnen blickte er an sich hinab, während er sich mit seinen Händen hektisch abtastete, doch er konnte nichts entdecken oder finden.
Sichtbare Erleichterung machte sich in seinem Gesicht breit, als ihm klar wurde, dass der letzte Teil seines Traums tatsächlich nur ein Traum war und nichts mit der Realität zu tun hatte.
"Kuja?" stöhnte Mariella neben ihm, ohne jedoch ihre Augen zu öffnen.
Kuja atmete einmal tief durch und spürte, wie er sich wieder entspannte. "Ich bin hier, Liebes!" erwiderte er und streichelte ihr sanft über ihre rechte Schulter. Mariella stöhnte wohlig auf und er musste lächeln.
Dann aber war ihm klar, dass diese schlimme Sache noch lange nicht ausgestanden war. Und wenn er nicht riskieren wollte, dass er nochmals davon träumte und dann im Schlaf vielleicht sogar redete, Mariella davon wach wurde und womöglich erkannte, was wirklich geschehen war, würde er über alles gründlich nachdenken müssen.
Doch nicht mehr heute, nicht jetzt. Stattdessen legte er sich direkt hinter Mariella, schob seinen nackten Körper ganz dicht an ihren und es gelang ihm tatsächlich, wieder einzuschlafen.
"Wie fühlst du dich?" fragte Fürst Marco seinen Sohn, nachdem er zu ihm auf den Balkon des Thronsaals getreten war, ihm zunächst nur zugenickt und dann für einige Momente das Treiben der Stadt vor ihnen beobachtet hatte.
"Was meinst du?" erwiderte Kuja und hoffte, dass sein Vater ihm nicht ansah, dass er innerlich erschrocken war.
Zwei Wochen waren vergangen, seit er von seiner Reise zurückgekehrt war und bisher war noch kein Vier-Augen-Gespräch mit Fürst Marco zustande gekommen. Zum einen hatte sein Vater sehr viele Amtsgeschäfte zu führen, bei denen sein Sohn zwar anwesend war, er jedoch natürlich keine Zeit für ein ernstes Gespräch mit ihm finden konnte, zum anderen fand Kuja Spaß daran, sich aktiv an der Hochzeitsplanung zu beteiligen, was ihn ziemlich in Anspruch nahm. Natürlich war Kuja nicht unglücklich darüber, seinem Vater so aus dem Weg gehen und ein Gespräch vermeiden zu können, wenngleich er wusste, dass es früher oder später dazu kommen würde. Ganz offensichtlich war dieser Moment jetzt da.
"In Bezug auf deine bevorstehende Hochzeit, meine ich!" erklärte Marco, während er wieder auf den belebten Marktplatz vor dem Schloss blickte.
Jetzt war Kuja überrascht. "Ich…!" begann er und nickte dann. "Ich fühle mich sehr gut dabei!"
Der Fürst atmete einmal tief durch und nickte dann ebenfalls zufrieden. "Mariella ist eine wunderbare Frau. Intelligent, stark, einfühlsam. Sie hat ein großes Herz am rechten Fleck!" Er drehte sich zu seinem Sohn und lächelte. "Und sie ist atemberaubend schön!"
"Ja!" Kuja sah seinen Vater direkt an. "All das ist sie wahrhaftig!" Er lächelte mit funkelnden Augen. "Sie zu heiraten ist die beste Entscheidung in meinem Leben. Ich bin mir sicher, sie wird mich zu einem glücklichen Ehemann machen und eine hervorragende Fürstin für dieses Land sein!"
Sein Vater nickte. "Recht so!" Dann blickte er wieder auf dem Marktplatz. "Wenngleich ich dann nicht verstehe, warum du so ernst, ja fast schon unzufrieden wirkst!"
Also doch! dachte Kuja. Jetzt lenkte sein Vater das Gespräch in die Richtung, in die er es sicherlich schon von Beginn an haben wollte. "Ich! Aber ich…!" versuchte er sich noch zu winden, doch als Marco ihn mit ernster Miene und stechendem Blick ansah, wusste er, dass er sich nicht herauswinden konnte. "Also gut! Die Sache mit Tizian und Giovanni macht mir noch immer schwer zu schaffen!" erklärte er mit traurigem Gesichtsausdruck.
Fürst Marco sah seinen Sohn einen Augenblick ausdruckslos an, dann nickte er. "Komm…!" Er deutete mit dem rechten Arm an, ihm in den Thronsaal zu folgen. "Ich denke, es wird Zeit, dass du deinem Vater die ganze Sache endlich erzählst!"
Kuja hätte jetzt nur zu gern abgelehnt, doch war ihm klar, dass das nicht möglich war. Also fügte er sich in sein Schicksal und folgte ihm.
Der Fürst ging zu einer ausladenden Sitzgruppe im hinteren Bereich des Thronsaals und orderte von einem Diener Kaffee und Gebäck. Als der Mann weg war, lehnte er sich in seinem Sessel zurück und fixierte seinen Sohn. "Also?"
Kuja atmete einmal tief durch, dann fühlte er eine gewisse Ruhe in sich. Auch er lehnte sich zurück. "Die Dinge in Polina dauerten länger, als erwartet!" begann er und verzog sein Gesicht zu einer gequälten Grimasse.
Marco lachte leise auf und nickte. "Ich hatte es dir gesagt. Stadthalter Marisi ist ein guter Mann, aber seine Feste sind fast schon legendär!"
"Wem sagst du das?" Kuja fuhr sich mit der Hand über die Stirn. "Na, jedenfalls sind wir am übernächsten Tag dann sehr früh aufgebrochen, um sicher zu sein, noch vor dem Abend in Santarole einzutreffen…!"
Kuja erzählte seinem Vater in den nächsten Minuten alle Vorfälle. In der Zwischenzeit erschien der Diener mit Kaffee und Gebäck. Der Fürst entließ ihn und schenkte beiden eine Tasse ein, doch essen wollte Kuja nichts.
Schließlich kam er auf die Geschehnisse im Wirtshaus zu sprechen.
"Na ja…!" Er verzog die Mundwinkel. "Nachdem man mich erkannt hatte, ließ es sich der Wirt nicht nehmen, ein kleines Fest zu veranstalten. Dabei lernten wir drei dann auch Marietta kennen!"
"Marietta?"
"Ja…!" Kuja nickte. "Sie war eine junge, verheiratete Frau, die uns Bier und Wein servierte!"
Der Fürst nickte.
"Nach dem Essen wollte Giovanni ein wenig frische Luft schnappen, als er merkte, dass er Magenkrämpfe bekam!" Kuja sah seinen Vater an. "Sicherlich das fette und großzügig gewürzte Essen...!"
"Gepaart mit dem Alkohol!" fügte Marco hinzu.
Kuja nickte. "Richtig!" Er grinste schief. "Na jedenfalls war zufällig Marietta in der Nähe und sagte ihm, dass sie in ihrem Haus einen guten Kräuterbitter dagegen hätte. Also ging er mit ihr!" Kuja sah, dass die Augenbrauen seines Vaters herabsanken. "Mittlerweile kam Burini, Mariettas Ehemann, von der Jagd zurück und ging zuerst in die Schankstube, um dem Wirt seinen Fang zu verkaufen. Als er sah und hörte, was dort los war, wollte er schnell nachhause gehen, um sich umzuziehen und dann zurückkehren. Als er in sein Haus kam und Giovanni bei seiner Frau sah, hat er sofort die völlig falschen Schlüsse daraus gezogen und geglaubt, sie würden Unzucht treiben!"
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