Teile ihrer Geschichten stimmen und andere sind totaler Quatsch. Es stimmt zwar, dass zum Beispiel die Zwerge gern unter Tage leben, doch sie leben genauso gern auf der Oberfläche. Auch was die Schattenwesen angeht, also Vampire, Werwölfe, Dämonen und so weiter, waren die Menschen oft nah dran, mit ihren Beschreibungen. Oft. Aber lange nicht immer. Ich muss grinsen und zwinge mich gleich darauf wieder zur Aufmerksamkeit, denn ein Aufschrei aus der Ferne holt mich in die Realität zurück. Die Elfen jagen also heute Nacht.
Ich hoffe und bete, dass sie nicht in der Nähe sind. Und wenn doch, dass sie keine Magie anwenden, um Menschen aufzuspüren. Leider können die Elfen auch das, zaubern. Aufspürzauber sind dabei anscheinend ihre Lieblingsdisziplin. Wenn ich das könnte ...
Auf meinem Weg hierher habe ich weder Magier noch irgendwelche anderen magiebegabten Wesen getroffen, dafür aber zwei Vampire. Doch die halten sich von dem Gebiet fern, in dem ich gerade lebe. Ich habe aber festgestellt, dass Blutsauger sehr viel ungefährlicher sind als die - von den Menschen so oft als Wunder der Natur dargestellten - Elfen.
Die sind nämlich sogar nicht friedfertig und freundlich wie in den Büchern beschrieben. Ich habe jedenfalls noch keines gelesen, in denen sie Jagd auf Menschen machen und diese dann entweder gleich hinrichten oder für irgendwelche Rituale verschleppen. Bis auf das Aussehen, das fast überall gleich beschrieben wird - anmutig, schön und ziemlich oft sogar sexy -, sind sie vom Verhalten her das genaue Gegenteil. Aggressive, bösartige, barbarische Mörder.
Leider muss ich das Risiko eingehen, ihnen über den Weg zu laufen, denn die Kräuter in meiner Tasche wachsen nur auf diesem Fleckchen Erde und ohne diese Kräuter würde ich sterben. So wie meine Brüder vor mir und mein Dad. Meine Mum lebt noch, doch sie ist zu alt, als dass sie diese Reise mit mir hätte machen können. Also musste ich allein los und bin hier gelandet.
An einem der wohl gefährlichsten Plätze für Menschen auf der Erde, der gleichzeitig meine einzige Chance auf Leben ist. Meine Hoffnung, irgendwann vielleicht geheilt zu sein, oder eine andere Lösung zu finden, bleibt.
Hinter mir raschelt es im Gebüsch. Ich muss mich zwingen, nicht danach zu sehen. Stattdessen gehe ich unauffällig einen Schritt schneller.
Bitte lass es keinen von denen sein , schießt es mir durch den Kopf. Wobei sie sich selten mit Geräuschen ankündigen. Das Rascheln wird kurz leiser, als ich Abstand gewinne, doch es wird schnell erneut lauter und bleibt dann stetig neben mir. Ich bleibe stehen. Das klingt nicht nach zwei Beinen und viel zu auffällig für einen Elf.
Mein Blick richtet sich auf das Gehölz nebenan und ich versuche im Dunkel etwas zu erkennen. Eine Straßenlaterne flackert und geht aus.
Prima . Plötzlich streift etwas mein Bein und ich springe erschrocken zurück. Mein Blick huscht über den Boden, denn was auch immer es war, es war kniehoch. Wieder flackert die Laterne und das Licht geht an. Vor mir steht ein Wolf.
Ein echt kleiner Wolf , wie ich erstaunt feststellen muss. Sicher ist er noch ein Jungwolf.
Seine Augen mustern neugierig mein Gesicht, dann senkt er den Kopf leicht und kommt auf mich zu. Automatisch weiche ich wieder zurück, denn wo ein Babywolf ist, ist die Mutter nicht weit. Doch der Kleine folgt mir. Ein wenig panisch schaue ich mich um, doch niemand ist hier. Dann betrachte ich das Tier näher.
Seine Pfoten sind viel zu groß für den Rest des Körpers und auch die Ohren wirken eher wie Radartüten, die er aufgesetzt bekommen hat. Er ist definitiv gerade aus dem Welpenalter raus. Noch zwei Schritte, dann steht er vor mir und schaut zu mir auf. Seine Augen sind grau und stechen aus dem sonst fast schwarzen Fell hervor. Seine Zunge fährt aus seinem Maul und über seine Nase, dann ist sie wieder weg.
„Na Kleiner?“, flüstere ich und sein Kopf legt sich schief. „Wo ist denn deine Mama?“ Natürlich kann er nicht antworten. „Geh wieder nach Hause. Ich muss weiter“, sage ich, schiebe mich an ihm vorbei und laufe los. Ein Kontrollblick über die Schulter zeigt mir, dass er mir nachschaut. Als er meinen Blick sieht, setzt auch er sich in Bewegung und folgt mir.
Wieder bleibe ich stehen. „Du kannst nicht mit. Geh nach Hause“, versuche ich, ihn zu verscheuchen, und mache eine schiebende Geste mit den Händen. Er macht zwar einen Schritt zurück, doch er geht nicht. Auch egal . Er wird schon abhauen. Ich muss runter von der Straße.
Mein Weg ist weit und ich bin abgelenkt von dem Wolf, der mir stetig folgt. Das ist nicht gut, denn ich muss wirklich aufpassen. Endlich kommen die Ruinen in Sicht und ich atme erleichtert aus, als ich die Grenze zu meinem derzeitigen Zuhause übertrete. Noch ein paar mal habe ich aus der Ferne Schreie gehört, doch sie waren alle weit genug weg, als dass ich in größerer Gefahr gewesen wäre. Heute ist anscheinend die Nordstadt dran. Ich kann die Menschen dort nicht verstehen. Sie leben teils wirklich nah, bei den Elfen. Es ist nur eine Frage der Zeit, dass sie gefunden werden.
Die Ansammlung kleiner Häuser in der mein Hof liegt, muss früher mal ein Dorf gewesen sein. Jetzt wuchert alles zu, denn die Natur hat sich schon längst zurückgeholt, was ihr gehört. Ich habe mich in diesem ehemaligen Bauernhof hier eingerichtet. Er ist nicht groß, aber gemütlich. Auch hier wuchern überall Pflanzen, doch sie helfen ebenso, die undichten Stellen zu verschließen, die die Jahre des Leerstandes im Mauerwerk hinterlassen haben. Auch das Dach besteht rein aus Geäst.
Als ich zwischen den Resten der ehemaligen Mauer, die das Grundstück umschließt, durchtrete, bleibe ich kurz stehen. Der Wolf ist noch immer hinter mir, doch auch er ist stehengeblieben und beobachtet mich.
Ich stehe hinter der Schutzgrenze, die alle magischen Wesen davon abhält, den Hof zu betreten. Meine Mutter hat dieses Ritual gefunden, nachdem unsere Familie angegriffen worden war und sie hat es mir beigebracht, bevor ich sie verlassen musste. Ich weiß nicht, was mit magischen Wesen geschehen würde, würden sie versuchen über die Grenze zu treten, doch genauso froh bin ich, dass anscheinend niemand weiß, dass ich hier lebe und es somit auch noch keiner versucht hat. Bis auf die alte Frau - Cècilia, auch ein Mensch - am anderen Ende des Dorfes, bin ich allein auf weiter Flur.
Sie hat mir verraten, dass ich in dieser Stadt die Kräuter finde, die ich zum Überleben brauche. Sie hat mir auch gezeigt, wie ich die Salbe herstelle, die meine Schmerzen eindämmt und verhindert, dass sich die Infektion ausbreitet. Im Grunde verdanke ich ihr mein Leben.
Der Wolf steht vor den Mauerresten und hält meinen Blick fest. Eine geschlagene Minute starren wir uns an. Er, als warte er auf Einlass. Ich, weil ich wissen will, ob er die Grenze übertreten kann. Dann tut er es. In leichtem Trab kommt er auf mich zu und setzt sich vor mich hin. Innerlich atme ich auf, denn das heißt, er ist ein gewöhnlicher Wolf, kein Wer- oder Elbwolf. Wobei Werwölfe ebenfalls nicht in dieser Gegend leben. Eben wegen den Elbwölfen. Die im Übrigen immer an einen Elfen gebunden sind.
Elbwölfe sind zwar keine Gestaltwandler, dafür aber magisch und den Werwölfen in Kraft und Schnelligkeit sogar noch überlegen. Revierkämpfe werden also geflissentlich vermieden. Der Welpe vor mir ist kein Elbwolf, sonst würde er sicher nicht so sorglos vor mir sitzen und mich treuherzig wie ein Hund anschauen. Mein Schutz hätte es verhindert.
Ich wende mich ab und gehe ins Haus. Die Schmerzen in meiner Seite werden schlimmer, ich brauche dringend die Salbe.
Im ehemaligen Wohnbereich, der jetzt meine Einzimmerwohnung ist, lasse ich meine Sachen fallen und beginne gleich mit den Vorbereitungen für meine Medizin. Die Mixtur muss eine Stunde ruhen, bevor ich sie auftragen kann, was noch zur Herausforderung wird, wie ich wohl weiß. Es ist immer so, wenn ich zu spät dran bin.
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