Dramatisch ist etwas ganz anderes. Dramatisch ist zum Beispiel meine ganz persönliche derzeitige Situation. Ich liege hilflos hier und kann nur im Entferntesten daran denken, jemals wieder eine Geschichte zu schreiben. Ich weiß, dass ich am Ende bin. Ist es das Ende der Geschichte, wie es der US-amerikanische Politologe Francis Fukuyama in einer wirren Analyse vor dreißig Jahren einmal feststellte?
Ich zumindest will noch nicht am Ende sein, und deshalb konzentriere ich mich ganz auf meine Brust. Ich drücke oder versuche es zumindest ... Und höre etwas.
Einen Laut!
Ich habe einen Laut von mir gegeben!
Er bleibt größtenteils in meinem geschlossenen Mund, aber ich kann ihn auch in meiner Nase hören und fühlen – ein leises Summen.
Wäre das toll, wenn ich hier vor Stephen King aus dem Wachkoma erwache! Ich bin mir inzwischen ziemlich klar darüber, dass ich im Wachkoma liege, nur weiß ich nicht sicher, ob das mit jenem Impfstich zu tun hat. Aber das ist im Moment auch wirklich nebensächlich.
Ich freue mich auf Kings Gesichtsausdruck, wenn ich mich plötzlich aufrichte, ihm die Hand reiche und ihm für sein Gesamtwerk danke. Ich konzentriere mich erneut, gebe mir größte Mühe, wiederhole den Vorgang und bringe diesmal einen Ton hervor, der etwas lauter ist und wie Zigarettenrauch aus meinen Nasenlöchern quillt: Nnnnnnn ...
Jetzt muss ich an einen uralten Fernsehfilm von Alfred Hitchcock denken, den ich vor ewig langer Zeit gesehen habe, in dem Joseph Cotten nach einem Verkehrsunfall gelähmt war und den Ärzten schließlich durch eine einzige Träne zeigen konnte, dass er noch lebte. Zumindest hat dieser winzige, an ein Mückensirren erinnernde Nnnnnnn- Laut mir selbst bewiesen, dass ich lebe, dass ich nicht nur ein Überbleibsel des Pfingstgeistes bin, der sich noch in der irdischen Hülle meines eigenen toten Körpers aufhält.
Außerhalb meiner Gedankenwelt höre ich die Schnippelärztin gerade etwas erklären: „Der Unterschied zur Rechtsmedizin, Mr King, ist folgender: Wir Pathologen machen Leichenöffnungen, wenn die Todesursache unklar, aber natürlich ist. Es wirkt vielleicht unlogisch, aber Pathologen dürfen nur sezieren, wenn eine natürliche Todesursache vorliegt. Gerichtsmediziner hingegen sezieren nur dann, wenn fremde Gewalt im Spiel gewesen sein könnte.“
Als ich meine gesamte Konzentration bündle, kann ich spüren, wie Luft durch meine Nase und meine Kehle hinunterströmt, um den Atem zu ersetzen, den ich jetzt verausgabt habe, und dann stoße ich sie wieder aus und arbeite schwerer, als ich je als Teenager zur Weihnachtszeit bei der guten alten Bundespost gearbeitet habe, als ich Geschenkpakete in den vierten und fünften Stock (ohne Aufzug) austrug. Jetzt, auf dem Seziertisch, arbeite ich wirklich schwerer, als ich je in meinem Leben gearbeitet habe, weil ich jetzt um mein Leben arbeite, und die da neben mir müssen mich hören, lieber Jesus, sie müssen!
Nnnnnnnn …
„Hören Sie gerne House-Musik?“, fragt die Ärztin (Sie fragt den berühmten Mr Schriftsteller, nehme ich an). „Ich habe aber auch amerikanische Country-Songs …“, beeilt sie sich hinzuzufügen.
Stephen gibt einen abwehrenden Laut von sich. Ich höre ihn kaum und ziehe keine unmittelbaren Schlüsse aus dem Gesagten, was vermutlich eine Gnade ist.
„Schon gut“, sagt sie lachend. „Ich habe auch klassische Musik.“
„No, nein, nein, no Classics, please!“, ruft Grusel-King aus. „Haben sö dee Toten Hosen ?“
„Warum nicht? Eine liegt genau vor uns“, scherzt Frau Dr. Möller und fügt halb singend hinzu: „An Tagen wie diesen …“
„Haben Sie die wirklich in Ihrer Playlist?“, fragt ungläubig Klaus, der unsichere Anlernling. Und ich hoffe schon, dass er über all dem vergisst, mich aufzuschneiden.
„Na, seh‘ ich etwa immer noch spießig aus, wenn ich meinen grünen Kittel ausziehe?“
Ich höre die Stimme der Ärztin und das Rascheln eines Kittels, der gerade abgestreift wird. Sie wird doch vor Stephen King, Klausi-Mausi und mir keinen Striptease hinlegen?
Hört mir zu!, kreische ich in meinem Kopf, während meine unbeweglichen Augen zu dem eisig-weißen Licht aufstarren. Hört auf, wie Hausfrauen auf dem Marktplatz zu schwatzen, und hört mir endlich zu!
Ich fühle mich verzweifelt – wie damals zu meinen besten Facebook-Zeiten, als ich mich selbst mit Bluttransfusionen retten musste und genau wusste, dass die Menge im Beutel nicht ausreichen würde. (Dass sich so vieles im Leben wiederholt, ist eine der Merkwürdigkeiten, die ich mir als Story vorknöpfen werde, sofern ich diesen Seziertisch hier lebend verlasse … Obwohl, stopp: Als nächstes Projekt steht »Willi, der Held von Lich« auf meinem Schreibplan – ein wütender Elon-Musk-LKW, selbstfahrend, selbstdenkend, der gegen ein Logistikmonster kämpft …)
Ich fühle wieder Luft durch meine Atemwege strömen, und das bringt mich auf die Idee, was immer mir zugestoßen ist, könnte allmählich abklingen … aber das ist nur ein schwaches Echozeichen auf dem Radarschirm meiner flüchtigen Gedanken. Vielleicht klingt es ab, aber eine Erholung alleine wird jetzt keine Option für mich sein. Sie müssen mich hören! Meine gesamte Energie ist darauf konzentriert, sie dazu zu bringen, meine zart gehauchten Töne zu vernehmen, und diesmal werden sie mich hören, das könnte ich wetten.
„Gut, dann die Toten Hosen “, sagt sie. „Es sei denn Mr King möchte aus gegebenem Anlass »Mein Herz« von Beatrice Egli hören. You like her?“
Endlich sehe ich das Gesicht meines Protagonisten kurz über mir, sehe seine schräge Brille, sehe, wie er verneinend den Kopf schüttelt („Nein, keine Egli isch kennen“). Ich sehe, wie er seine Brille zurechtrückt, als er wohl die Instrumente in Augenschein nimmt, die links von mir auf einer (dem Klang nach) stählernen Ablage liegen; sehe, wie er wahrscheinlich zur Ärztin schaut, sehe ihren Zeigefinger auf die Gegend deuten, wo mein Herz noch schlägt, was sie und die beiden anderen allerdings nicht wissen.
Jetzt spricht Frau Doktor ihren Helfer an: „Sind Sie einverstanden, wenn ich zu Ehren Ihrer ersten Autopsie und zu Ehren unseres Ehrengastes einen Song der Toten Hosen abspiele?“
„Ist mir eine Ehre!“, ruft er, und alle drei lachen.
Mein Ton beginnt herauszukommen, und diesmal ist er lauter. Nicht so laut, wie ich gehofft habe, aber laut genug. Sie müssen ihn hören, sie müssen! Dann, als ich eben beginne, den Ton wie eine rasch erstarrende Flüssigkeit aus meiner Nase zu pressen, füllt der Raum sich (viel zu laut) mit dem Gitarren-Geklimper und den (für mich) absolut unpassenden Singsangworten: „Ich wart‘ seit Wochen auf diesen Tag …“
„Leiser!“, schreit Frau Dr. Cisco-Möller. Sie schreit komisch übertrieben. Bei diesem ganzen Krach ist mein eigener nasaler Laut, ein verzweifeltes kleines Summen durch die Nase, nicht besser zu hören als ein Flüstern in einer Eisenschmiede.
Jetzt beugt ihr Gesicht sich wieder über mich, und mich erfasst neues Entsetzen, als ich sehe, dass sie eine Schutzbrille aus Plexiglas trägt und ihre Gesichtsmaske über Mund und Nase hochgezogen hat. Sie blickt über ihre Schulter zurück. Gleich wird sie Stephen erklären, wer von ihnen was und warum und wie aufschneidet und wonach sie suchen und was sie zu finden hoffen. Vielleicht erfahre ich in meinen letzten Minuten zumindest von ihr, was mir zugestoßen sein könnte. Eine Vermutung würde mir reichen.
„Ich strippe ihn für Sie“, erklärt sie Klaus, dann beugt sie sich mit einem glitzernden Skalpell in der Hand zu mir her, beugt sich, vom Gitarren- und Gesangsdonner der Toten Hosen begleitet, über mich.
Meine momentan einzige geistige Stärke liegt in der Rekapitulation: Noch immer liege ich starr und steif in einem Autopsie-Raum und rechne damit, dass man mich mit einem zackigen Schnipp-schnapp aufschneidet, um meine angebliche Todesursache zu ermitteln. Zu meiner großen Überraschung tritt Stephen King neben die Aufschnippelmedizinerin und ihr Helferlein (Klausi-Mausi), um sich alles erklären zu lassen, weil er dieses Mal eine authentische Horrorgeschichte schreiben möchte. Er möchte alles möglichst realistisch schildern, wofür ich als Autor durchaus Verständnis aufbringe. Aber nicht als scheintote Nichtleiche, die bloß im Wachkoma liegt und alles (sehr realistisch) mitbekommt. Soll ich ihn jetzt hassen?
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