Der Koch, der monatlich einmal selbst in das Dorf geritten kam, um die nötigsten Einkäufe an Küchengewürzen vorzunehmen, traute seinen Ohren nicht, als er die Geschichte vernahm, die der Silbador in die Welt gesetzt hatte. Und kaum war er wieder auf dem Schloß, da wußte es bald sein ganzer Küchenstab. Von dort aus war der Weg zur Dienerschaft nur noch kurz. Als bei der Schloßreinigung samstags der Majordomo seine Leute beaufsichtigte, bemerkte er, wie zwei Dienstmädchen ständig miteinander tuschelten.
»Heda, ihr beiden! Redet nicht, sondern tut eure Arbeit. Sonst setzt es Hiebe.« Es waren aber kaum ein paar Minuten vergangen, da bemerkte er abermals, wie sie ihre Köpfe zusammensteckten. Er hätte schimpfen oder sie bestrafen können. Aber er war ein neugieriger Mann. So wartete er ab, bis er eine günstige Gelegenheit fand, sie zu belauschen. Eine solche ergab sich schon innerhalb der nächsten Minuten.
»Was sagst du zu der Geschichte, die sie sich im Dorf erzählen, Anita?« fragte die eine. »Ich glaube es nicht.«
»Der Silbador hat es aber gesagt«, behauptete die andere.
»Man müßte sich mal hinunter in das Verließ schleichen. Vielleicht ist der Eingesperrte wirklich der richtige Graf.«
Der Majordomo hatte genug gehört. Schreckensbleich zog er sich von seinem Lauscherposten zurück und begab sich sofort in die Gemächer der Gräfin. »Was wollt Ihr?« fragte Marina ungehalten. »Ich möchte Euch berichten, was man sich im Dorf unten und auch bereits auf dem Schloß erzählt, Vuestra Merced. Es muß etwas geschehen.«
»Ihr seid ja ganz aufgeregt, Manuel. Faßt Euch doch«, sagte Fernando und fuhr sich mit der gepflegten Hand über die Perücke.
»Wie kann ich mich fassen, wenn das ganze Haus unser bisher sorgfältig gehütetes Geheimnis kennt?«
»Was meint Ihr?« fragte die Gräfin erstaunt. »Was werde ich schon meinen! Sie wissen, daß der
Mann im Verließ unten der richtige Graf ist. Alle wissen es, auch die Bauern im Dorf. Der
Silbador hat das Gerücht im ganzen Land ausgestreut. Was soll nur geschehen, wenn es dem
Pfarrer oder dem Alcalden zu Ohren kommt?« Marina faßte sich schnell.
»Ihr seid kindisch, Manuel. Bildet Ihr Euch etwa ein, daß Männer wie der Alcalde solchen
Märchen Glauben schenken werden, zumal das Gerücht, wie Ihr sagt, vom Silbador
ausgeht?«
Don Manuel gab sich keineswegs zufrieden.»Können wir Esteban nicht von hier wegbringen?« Die Gräfin lachte gezwungen.
»Wegbringen? Meintet Ihr vielleicht--?« Sie machte eine unmißverständliche Bewegung.
Manuel erbleichte.
»Ich kann das nicht. Nein, ich tue es auch nicht.«
»Ich weiß«, antwortete Marina spöttisch. »Euch ist ja sogar der Tod dieses armseligen Schäfers auf die Nerven gegangen, obwohl Ihr es doch wart, der ihn bestrafen wollte.«
»Ich kann mir nicht helfen, Vuestra Merced«, sagte der Majordomo, »bestrafen und totschlagen ist zweierlei. Nein, ich kann niemanden totschlagen.«
Die Gräfin stand auf.
»Es ist gut«, sagte sie mit völlig veränderter, fast sanfter Stimme; »wir werden sehen, was zu tun ist. Vielleicht sollte wirklich jemand hier im Schloß ganz plötzlich eine Reise machen ... Geht jetzt.«
Michel Baum und sein Helfer Juan hatten sich am Eingang des Stollens getroffen, der vom Gebirge aus in das Schloß führte.
»Endlich kommst du, Juan. Ich glaubte fast, du wärest wieder eigene Wege gegangen.« Juan stieg von dem schweißtriefenden Pferd.
»Ihr wißt, Don Silbador, daß Ihr Euch auf mich verlassen könnt. Hat sich das Gerücht nicht wie ein Brand über das Gebirge verbreitet? Und zudem bringe ich auch noch eine neue Nachricht. Sie ist Gold wert.«
»Willst du mich auf die Folter spannen, hombre? Berichte doch, ohne dich erst bitten zu lassen.
Was gibt's?«
»Der Majordomo ist tot.«
»Donnerwetter«, entfuhr es Michel. »Das ging aber schnell. Wer hat ihn auf dem Gewissen?« »Niemand. Er ist die Treppe hinuntergestürzt und hat sich dabei das Genick gebrochen.« »So, so, was du nicht sagst. Hat der Arzt den Sachbestand bestätigt und den Totenschein ausgefüllt?«
Juan sah seinen neuen Herrn verwundert an.
»Wozu diese Formalitäten? Die Gräfin hat ihn die Treppe selbst hinunterfallen sehen. Das genügt.«
Michel grinste.
»Ach, sie hat ihn die Treppe hinunterfallen sehen? Nun, bei jedem anderen Augenzeugen hätte ich an ein Unglück geglaubt. Wenn sie jedoch dabei war, so hat sie sicher ein wenig nachgeholfen. Weißt du, was das bedeutet?« »Keine Ahnung«, meinte Juan.
»Soviel, daß sich die Verbrecher jetzt selbst gegenseitig den Garaus machen.« »Und was wollen wir jetzt machen?« fragte Juan.
»Das werde ich dir sofort auseinandersetzen. Du reitest auf schnellstem Wege zum Alcalden und womöglich auch zum Pfarrer und bittest sie, sich sogleich ins Schloß zu begeben, wie — — nun sagen wir, wie zu einem Totenbesuch. Dazu kommt uns der Haushofmeister wie gerufen. Sage dem Pfarrer, daß er ihn einsegnen möge. Ein tadelloser Grund zu einem Besuch, ein Grund, an dem selbst die kluge Teufelin nichts auszusetzen haben wird. Sieh zu, daß du mit den Herren in spätestens zwei Stunden auf dem Schloß bist. Richte ihnen aus, sie möchten ihren Besuch so lange ausdeh-nen wie nur möglich. Der Silbador wird heute abend den Beweis für seine Behauptung antreten. Du selbst hältst dich am besten im Hintergrund. Man braucht dich auf dem Schloß vorläufig gar nicht zu sehen. Hast du das verstanden?« »Ja, Senor. Alles.«
Juan sprang aufs Pferd und war in Sekundenschnelle verschwunden. Michel aber setzte sich hinter einen Busch und wartete, bis die Dunkelheit einbrach. Als etwa eine Stunde vergangen war, stieg er in den Schacht hinunter.
Er hatte bald das Gangende erreicht und stand nun vor der dicken Tür. Unglücklicherweise konnte man von hier aus auch nicht das leiseste Geräusch von innen her vernehmen. So mußte eben auf gut Glück gehandelt werden. Zur Öffnung der Tür war hier dasselbe Loch in den Boden gebohrt wie innen. Ein Griff, und sie drehte sich um ihre vertikale Achse. Michel war vorsichtshalber in den Gang zurückgetreten, um erst zu erspähen, ob die Luft rein war. Diese Vorsicht machte sich bezahlt. Er hörte, wie drinnen jemand erschrocken mehrmals hintereinander »Santa Maria, Santa Maria, Madre de Dios!« rief. Da stand er plötzlich mit einem ungeheuren Satz mitten im Gang, der vor den Zellen entlang führte. Fast wäre er beim Sprung mit dem Wächter zusammengeprallt. Dieser riß den Mund auf in ungläubigem Erstaunen, vergaß aber, zum zweitenmal zu schreien. Da hatte ihn Michel auch schon bei der Kehle und drückte ihm die Luft ab. Röchelnd sackte der Mann zusammen und wurde mit seinem eigenen Hosenriemen gebunden. An eben jenem Riemen fand Michel auch das wichtigste: einen ganzen Bund wunderschöner, glitzernder Schlüssel.
Sekunden später stand er vor der Zelle des Grafen. Ein kaum unterdrückter Jubelruf begrüßte ihn. Michel legte seinen Zeigefinger auf den Mund und sagte halblaut: »Wollt Ihr, daß man uns noch im letzten Augenblick bemerkt und uns unter Umständen beide wieder einlocht? Setzt Euch auf Eure Pritsche, Don Esteban. Ich hole den besinnungslosen Wächter, den wir dann an Eurer Stelle einschließen werden.«
Er eilte in den Gang zurück, um seinen Vorsatz auszuführen. Als er die Zelle wieder betrat, fand er einen in Tränen aufgelösten Menschen vor, der sein Schluchzen nur mit großer Mühe unterdrücken konnte.
»So faßt Euch doch«, sagte Michel in männlichem Zorn. »Hört jetzt lieber zu, welche Pläne ich noch habe heute abend.«
»Wollen wir nicht erst das Schloß verlassen?« fragte der Graf enttäuscht.
»Wohin wollt Ihr denn?« stellte Michel die verwunderte Gegenfrage.
»Weg«, sagte Don Esteban, »weit fort von hier. Auf, kommt, laßt uns so schnell wie möglich fliehen, damit wir bis morgen früh einen genügend großen Vorsprung haben.«
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