Michel wandte sich halb entschuldigend an den Pfarrer.
»Ihr habt gesehen, Senor, es blieb mir keine andere Wahl. Ich wollte ihn schonen; aber er war heimtückisch.«
Der Pfarrer nickte nur.
Nachdem die Gräfin in den Kerker des Schlosses geworfen worden war, standen der Pfarrer, der Alcalde, Michel Baum, sein Gehilfe Juan und der befreite Graf vor der Tür des alten Grafen. Zögernd drückte Esteban die Klinke nieder. Die anderen warteten gespannt. Der Alte lag halb aufgerichtet in seinem Bett und sagte, als er seines Sohnes ansichtig wurde: »Ah, da bist du ja, Esteban, nun, du hast lange gebraucht, den Weg hierher zu finden. Wo bist du die ganze Zeit über gewesen? Ich habe deinen Vetter mehrmals nach dir gefragt; aber er konnte mir keine Auskunft geben.«»Nun ist alles wieder gut, Vater«, sagte Esteban. »Ich freue mich, daß ich wieder bei dir sein kann.«
»War etwas schlecht? Ach, ich bin sehr müde, weil--weil ich zu lange auf dich warten mußte, zu lange--zu lange--.«
»Ist es nicht furchtbar?« fragte Don Esteban, als er wieder zu den anderen trat.
»Nein, es ist besser so«, meinte Michel. »Er wird sicher wieder gesund werden. Bei normalem Geist hätte ihn die Freude des Wiedersehens töten können.«
»Gott war gnädig«, sagte der Pfarrer. Michel konnte sich eines Lächelns nicht enthalten. »Schreibt Ihr da dem lieben Gott nicht ein wenig zu viel zu?« fragte er. »In diesem Fall zum Beispiel war es bestimmt nicht Gott, der ihm geholfen hat, sondern durchaus nur ein Mensch, wenn ich so sagen darf. Seht her.«
Er hielt den Anwesenden ein kleines Schächtelchen unter die Nasen.
»Das habe ich im Strickbeutel der Gräfin gefunden. Es ist indianisches Kakteengift, mit dem man den alten Grafen langsam umbringen wollte. Dem Gericht wird es als Indiz gegen die Gräfin dienen.«
»Sie wird es von dem finsteren Doktor haben«, meinte Juan. »Niemand hier mochte ihn so recht leiden. Aber er kam oft, um nach dem alten Grafen zu sehen.«
»Nun, das werden wir morgen feststellen. Ich glaube, es wird noch eine ganze Reihe von Verhaftungen nötig werden, Alcalde«, meinte Michel. »Und nun bitte ich euch, mit mir zu kommen. Ich habe euch noch etwas zu zeigen.«
Die anderen folgten ihm wortlos. Er führte sie zu der Treppe, die der Majordomo angeblich herabgestürzt war, und nahm vorsichtig eine der bronzenen Zierkugeln vom Geländer. »Seht euch das hier an. An dieser Kugel klebt Blut. Und in dem geronnenen Blut sind ein paar Haare. Wenn ihr diese Haare untersuchen laßt, so wird sich sicherlich herausstellen, daß sie dem toten Majordomo gehören.«
»Ihr glaubt, sie hat ihn mit dieser Kugel erschlagen?« fragte der Graf erschaudernd. Michel nickte ernst.
»Ich bin fast überzeugt davon. Aber den Beweis auszuwerten, ist Sache der Richter.« »Gott sei ihr gnädig«, meinte der Pfarrer und wandte sich dann an den Alcalden. »Ich glaube, wir reiten heim.«
Man ließ die Gräfin im Schloßverließ, da es in Bielsa kein Gefängnis gab.
Michel blieb zu Gast beim Grafen, dessen Dankbarkeit keine Grenzen kannte. Eines Morgens nach dem Frühstück bat ihn der Graf in sein Arbeitszimmer.
»Ihr wißt, Senor Baum, wie sehr ich Euch verpflichtet bin. Geld wollt Ihr nicht nehmen; so will ich Euch etwas anderes schenken. Seht her.« Er öffnete einen Schrank. Michel erblickte eine Muskete, die ganz eigenartig konstruiert war. Sie hatte sechs Läufe. Jeder einzelne Lauf war dünner als gewöhnlich. Hinten, wo bei einem normalen Gewehr der Zündstein saß, war hier eine Scheibe angebracht, die sechs Zündsteine aufwies. Der Graf nahm das Gewehr zur Hand und erklärte:
»Das ist meine neueste Erfindung. Wenn Ihr den Hahn abgedrückt habt, so könnt Ihr, ohne zu laden, die Scheibe weiterdrehen. Dann drehen sich alle Läufe mit, und so bekommt Ihr hintereinander jeden einzelnen Lauf vor den Hahn. Wenn Ihr nun alle Läufe zu gleicher Zeit mit Pulver und Blei füllt, so könnt Ihr sechsmal hintereinander schießen. Was sagt Ihr dazu? « Michel konnte zunächst gar nichts sagen. Sechsmal hintereinander schießen zu können, ohne zu laden, das war genial, das war einfach großartig! Die Erfindung des Grafen konnte umwälzend auf kriegerische Geschehnisse wirken.
»Und solch eine kostbare Muskete wollt Ihr mir schenken, Graf? Wie soll ich das jemals gutmachen? Wollt Ihr nicht lieber warten, bis Ihr die nächsten Exemplare angefertigt habt? Gerade das erste möchte ich Euch nicht entführen.« Der Graf sah ihn mit ernsten Augen an.
»Unter anderen Umständen, Senor Baum, hätte ich Euch die erste dieser Waffen natürlich nicht gegeben.
Aber ich habe mich entschlossen, diese Erfindung nicht preiszugeben. Stellt Euch einmal vor, diese Waffe käme in die Hände von Unberufenen. Die Folgen wären schrecklich. In einem Krieg wäre dieses Repetiergewehr eine Waffe, die zu noch nie gekanntem, entsetzlichem Morden führen könnte. Nehmt sie und gebraucht sie nur, wenn Euch selbst Gefahr droht.« Michel drückte dem Grafen stumm die Hand. Er wußte sehr genau, welch einen Schatz das Schicksal damit in seine Hand gegeben hatte. —
Kurz bevor sich Michel entschloß, Villaverde zu verlassen, kam der Alcalde aufs Schloß geritten, um ihn zu bitten, ihm bei der Verhaftung des Doktor Garcia, dessen Wohnort er ausfindig gemacht hatte, behilflich zu sein. Dabei kündigte er gleich den Abtransport der Gräfin für den morgigen Tag an. Michel nickte nur.
»Ich bin froh, daß diese Teufelin endlich ihrer gerechten Strafe entgegengeführt wird, nicht wahr, Don Esteban?«
Der Graf sah zu Boden und gab keine Antwort. —
Der Alcalde und Michel ritten hinweg. Aber schon nach zwei Stunden kamen sie zurück. Ihre Gesichter verrieten, daß sie den Arzt nicht gefangen hatten.
»Er hat sich beizeiten aus dem Staub gemacht«, sagte der Alcalde verdrießlich. »Sein Haus war leer. Ich möchte wissen, woher er die Nachricht bekommen hat, daß wir ihn in Verdacht haben, der Gräfin beim Mord an ihrem Schwiegervater geholfen zu haben!«
Wieder sagte der Graf nichts, obwohl er über diese Wendung erschrocken zu sein schien. Der Alcalde verabschiedete sich mit der nochmaligen Versicherung, daß er morgen Marina abholen werde. —
Am Abend sollte Michel eine unangenehme Überraschung erleben. Don Esteban war schon den ganzen Tag über in gedrückter Stimmung gewesen. Als die beiden Männer bei einer Flasche Wein zusammensaßen, begann er seine Beichte:
»Senor Baum, ich weiß, Ihr werdet mich nicht verstehen; aber ich will Euch ohne jede Umschweife sagen, daß meine Frau morgen nicht den Weg nach Barcelona antreten wird. Ich habe sie bereits vorgestern in aller Heimlichkeit fliehen lassen.«
Michel Baum sah ihn mit großen Augen an und mußte sich eingestehen, daß ihm das letzte Verständnis für die Handlungsweise des Grafen fehlte.
»Ihr unterschätzt mich, Graf, wenn Ihr annehmt, ich würde Euch ob dieses Schrittes verdammen oder auch nur rügen. Ich weiß menschliches Verzeihen und Verstehen wohl zu schätzen. Und ich weiß auch, daß esim Herzen eines wertvollen Menschen Gefühle gibt, welche die wildesten Stürme überdauern. Deshalb bemühe ich mich, Euch zu verstehen. Nur eins habt Ihr bei alledem nicht beachtet. Wenn ein Mensch edel sein will, so soll er verhindern, daß anderen Menschen ein Leid zugefügt wird. Wieviel Leid aber, glaubt Ihr, wird Marina noch stiften, wenn sie der Arm des Gesetzes nicht erreicht? Ich bin der Letzte, der übermäßigen Respekt vor den Gesetzen hat. Aber ich werde stets versuchen, andere Menschen vor Böswilligen zu bewahren. Trotzdem, hier meine Hand. Ich weiß, daß Ihr eine Seele habt, die größer ist, als man es sonst schlechterdings bei einem Menschen voraussetzen möchte. Deshalb schätze ich Euch.« Don Esteban sah auf.
»Ihr habt gewiß nicht unrecht mit Eurer Mißbilligung, die teilweise in dem, was Ihr eben sagtet, zum Ausdruck kam. Ich will eine Gegenfrage an Euch richten: wenn die Frau, die Ihr liebt, zur Mörderin würde aus — aus — ich weiß nicht, was für Gründen, würdet Ihr dann zusehen wollen, wie man sie henkt?«
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