Ewigkeit in diesem alten Indien herumtreiben.«
»Wann wirst du nur einmal mit dem zufrieden sein, was ist!«
Ojo seufzte und schwieg für den Rest des Tages.An diesem Abend rasteten sie wieder in einem Waldstreifen. Jetzt, da die Gefahr hinter ihnen lag, wollten sie lieber bei Tag reiten und nachts ruhen.
Die Pferde suchten sich frische Grashalme. Durch die dichten Baumkronen konnte die Sonne
nicht so stark die Erde versengen und das Gras verdorren lassen wie draußen auf freiem Plan.
Die drei Reiter sattelten die Pferde ab, breiteten ihre Decken aus und legten sich nieder. Michel wollte, daß sie abwechselnd wachten. Aber die beiden anderen widersprachen.
»In diese Gegend kommt kein Mensch«, meinte Tscham, »und wenn sich ja einer hierher verirrt, dann ist er selber froh, wenn er unbehelligt ziehen darf.«
Bald lagen sie in traumlosem Schlaf.
Nach Mitternacht schrak der Pfeifer plötzlich hoch. In sein Unterbewußtsein waren Geräusche gedrungen. Sein durch viele Abenteuer geschärftes Ohr nahm auch im Schlaf jeden Laut wahr. Er richtete sich langsam auf und lauschte ins Dunkel. Es war still.
Dann plötzlich zerschnitt eine scharfe Stimme die Nacht.
»Rührt euch nicht, Fremde, wenn ihr nicht wollt, daß ihr von Speeren durchbohrt ins Reich Bhowanees geht.«
Die Worte waren auf englisch gesprochen. Ehe Michel zu einer Reaktion fähig war, ehe Ojo und Tscham den Schlaf abgeschüttelt hatten, fiel eine Meute vermummter Gestalten über sie her. Im Nu waren sie gefesselt. Und seidene Schlingen lagen um ihren Hals. Wieder sagte die Stimme:
»Das Ende der Schlingen ist mit euren Armen verbunden. Wenn ihr eine unerlaubte Bewegung macht, so erdrosselt ihr euch selbst. Verhaltet euch still, bis ich es euch anders befehle.« »Mann«, sagte Tscham auf Hindustani, »wie kannst du es wagen, den Radscha von Bihar und seine Begleiter zu — —«
»Schweig«, donnerte die Stimme, »ich will nichts hören. Wenn mich deine Zunge noch einmal ärgert, so ziehe ich die Schlinge zu. Seid still!«
Sie ergaben sich in ihr Schicksal. Sie mußten auf ihre Pferde steigen, und ihre Füße wurden mit Stricken, die unter den Bäuchen der Tiere entlangführten, zusammengebunden. Dann ritten sie hinaus auf die Steppe. Von einem Kordon schwarz vermummter Gestalten umgeben, jagten sie wieder nach Norden. Man hatte ihnen die Schlingen wieder vom Hals genommen; denn die Erschütterungen des scharfen Galopps hätten sie erwürgen können.
Die Nacht verging, der Tag verging, noch eine Nacht und noch ein Tag, dann schienen sie sich dem Ziel zu nähern. Sie mußten weit über Bihar hinaus gekommen sein.
Michel kannte die Gegend von seinen Streifzügen. Und Tscham bestätigte den Eindruck, daß sie sich in der Nähe von Benares befanden, Benares, der heiligen Stadt der Hindus. Sie ritten in ein Waldstück ein. Zweige peitschten ihnen ins Gesicht. Sie waren hungrig, müde und erschöpft.
Michel wußte sich auf das alles keinen Reim zu machen. Tscham hatte mehrmals versucht, den Thags beizubringen, wer er war. Aber meist ließ man ihn gar nicht ausreden oder wenn doch, so erntete er nur verächtliches Lachen.
Immer tiefer drangen sie in den Wald ein. Es wurdedüster. Das Licht des Tages konnte die Dschungel nur noch spärlich durchdringen. Aber der Weg, auf dem sie ritten, war nicht überwuchert. Es hatte den Anschein, als würde er ständig durch Macheten frei gehalten. Dann, nach zwei Stunden, gab der Anführer das Zeichen zum Halten.
Die Gefangenen wurden unsanft von den Pferden gerissen und in eine Art Laubhütte gebracht. Von Fackeln angestrahlt grinste ihnen die teuflische Fratze der Göttin des Todes entgegen. Bevor man sie allein ließ, schob man ihnen einen Knebel zwischen die Zähne und verstärkte die Fesselung so, daß sie kein Glied mehr zu rühren vermochten.
Stunde um Stunde verrann. Niemand kümmerte sich um sie. Man schien der Ansicht zu sein, daß Gefangene weder Wasser noch Brot benötigten. Seit ihrer Gefangennahme hatte man ihnen nichts Genießbares gegeben. Der Hunger wühlte in ihren Eingeweiden. Ojo machte einige verzweifelte Anstrengungen, seine Bande zu sprengen. Vergeblich.
Sie wußten nicht, wie lange sie gelegen hatten, als mehrere Männer die Hütte betraten.
»In Nagpur habt ihr sie gefangen? Wo? An welchem Ort?« fragte einer.
»In der Nähe von Rantschi.«
»Die wievielten sind es, seit die Hunde den Palast von Bihar in Brand geschossen haben?« »Ein Viertelhundert ist voll, erhabener Meister.«
»So werden wir den Engländern in Bihar ein Schauspiel bereiten, das sie nie vergessen werden. Ein Viertelhundert. Ich denke, Bhowanee wird uns nicht zürnen, wenn wir ihnen diesmal nicht die Schlinge um den Hals legen.«
Michel hatte nicht viel von der in Hindustani geführten Unterhaltung verstanden. Aber Tscham ließ trotz des Knebels ein vernehmliches Stöhnen hören. »Was will der Hund?« fragte der Wortführer seinen Begleiter.
»Ah, der scheint verrückt zu sein. Er behauptete während des ganzen Weges, er sei der Radscha von Bihar.«
Der Meister schwieg für einen Augenblick. Dann zog er die Stirn in Falten. »Spricht er denn unsere Sprache?«
»Ja, er spricht sie wie einer der Unsrigen. Es ist ein junges Bürschchen, frech und aufsässig. Wahrscheinlich ein gekaufter Knecht der Ostindien-Kompanie.« Wieder ließ Tscham ein Stöhnen hören.
»Nimm dem Kerl den Knebel aus dem Mund. Ich will selbst hören, was er zu sagen hat.« Der Thag kam dem Befehl nach.
Tscham spie ein paarmal aus. Dann blitzte er die Gesellschaft zornig an.
»Wenn ihr wieder einmal einen Radscha fangt, dann sorgt gefälligst dafür, daß ihr ihm wenigstens einen sauberen Knebel in den Mund schiebt, ihr Schmutzfinken!«
»Zähme deine Zunge, kleine Kröte! Wir werden dich zertreten, du Wurm. Gemeinsam mit deinen englischen Freunden werden wir dich auf einem Feuerfloß den Fluß hinunterschicken, so daß ihr brennend durch Bihar treibt und den Faringhi die Augen aus dem Kopf treten.«
Tscham lachte bitter auf.
»Du wirst der Sache Indiens einen schlechten Dienst erweisen, wenn du den Radscha von Bihar auf ein und demselben Floß mit den Fremden verbrennst. Noch in späteren Zeiten wird man über deine Dummheit lachen und weinen.«
Der Führer der Thags sah erstaunt auf den Gefangenen, der noch ein halber Knabe war. »Wenn man dich so reden hört«, sagte er belustigt, »könnte man fast glauben, du seist tatsächlich der Radscha. Aber da ich genau weiß, daß dieser mit seinem Palast untergegangen ist, so werde ich dir jetzt den Knebel wieder in dein ehrfurchtsloses Maul stecken.« Er gab einem seiner Leute einen Wink.
Michel hatte mit gesammelter Aufmerksamkeit dem Gespräch gelauscht. Die Stimme des Führers kam ihm bekannt vor. Plötzlich zuckte ein Blitz des Erkennens durch sein Hirn. Er dachte an jene Nacht zurück, in der die Thags, die er damals hatte gesund pflegen wollen, aus dem Garten des Bungalows entführt worden waren. Und er dachte an den seltsamen Besucher jener Nacht, der gekommen war, nur um zu sehen, wie ein Mann ausschaute, der sich die Aufgabe gestellt hatte, verwundete Gegner zu verarzten.
Er nahm alle Kraft zusammen. Da er sich nicht verständlich machen konnte, versuchte er seinen Körper vorzurollen. Einmal, zweimal drehte er sich um sich selbst. Beim drittenmal rollte er dem Meister von hinten gegen die Füße, so daß dieser rücklings über ihn fiel.
Der Thagführer war mit einem wütenden Zischlaut wieder auf den Beinen. Er riß eine brennende Fackel vom Podest der Bhowanee herunter und wollte sie dem Übeltäter ins Gesicht stoßen. Aber er hielt inne, stieß einen überraschten Laut aus und stierte dem Pfeifer ins Gesicht. »Ein Messer her, ein Messer, schnell«, schrie er einem Thag zu.
Zwei Sekunden später war Michel frei. Er reckte die steifen Glieder und spuckte den Knebel aus. Dann holte er ein paarmal tief Atem.
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