Arno Alexander
Das Erbe des Professors Pirello
Kriminalroman
Saga
Das Erbe des Professors Pirello
© 1957 Arno Alexander
Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen
All rights reserved
ISBN: 9788711626085
1. Ebook-Auflage, 2016
Format: EPUB 3.0
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Vielleicht war es nicht ganz in Ordnung, daß die Tochter des Ministerialrats de Saint-Roch durch Paris fuhr wie der Minister selbst. Zwei Polizisten in weißen Helmen und weißen Stulpenhandschuhen stürzten sich auf donnernden Motorrädern ihrer schwarzen Limousine voraus in das Gewühl auf der Place St. Michel. Der „Flic“ auf der Kreuzung hob seinen weißen Zauberstab steil in die Luft und streckte den Arm beschwörend gegen den Quai hin aus. Wie von einer unsichtbaren Luftmauer aufgefangen blieben alle Fahrzeuge in der Einmündung des Quais plötzlich stehen, und viele machten beim scharfen Bremsen eine kleine Verbeugung. Zwischen den Lippen des Verkehrspolizisten schrillte die Trillerpfeife. Der schwere Citroën mit dem Stander der Republik schoß über die Seinebrücke, quer über den Platz, der in Sekunden für ihn reingefegt war, und verschwand im Boulevard Saint Michel.
Viele Köpfe drehten sich. Die meisten sahen nichts. Der Trillerpfeifenton hörte auf, der Verkehr flutete auf den Platz zurück. Schwach vernahm man Hupen und Trillern weiter oben von der Kreuzung zum Boulevard Saint Germain. Die Kavalkade schien nach links abzubiegen. Einige hatten doch etwas gesehen.
„Eine junge Frau?“
„Jetzt schicken sie schon ihre Freundinnen unter Polizeibedeckung durch die Stadt.“
„Besser als wenn man sie so ans Steuer ließe —“
Frühlingssonne verklärte das in den letzten Wochen verregnete Paris. Ladenmädchen kurbelten mit Begeisterung die Markisen herunter, als glühe schon Sommersonne. Die jungen Männer gingen ohne Mantel, aber mit dicken, bunten Wollschals. Hier und da leuchteten zitronengelbe Damenhüte in Topfform, der Schlager des kommenden Sommers.
Als die beiden weißbehelmten Motorradfahrer ihre schweren Maschinen zum Halten brachten, wie man durchgehende Pferde zügelt, lief sofort eine kleine Traube Neugieriger zusammen. Die schwarze Limousine hielt vor dem Portal der Privatklinik des Professors Riquet. Die Hälse reckten sich. Stieg ein Minister aus? Wollte er sich röntgen lassen? Etwa auf eine Infektion der politischen Richtung? Die Pariser sind seit tausend Jahren Spottvögel von unverminderter Qualität.
Eine junge Frau stieg aus, eher ein Mädchen, und ging mit raschen kleinen Schritten die sechs Stufen hinauf. Man sah nichts als ein schlichtes blaues Kostüm, ein Hütchen mit Schleier, schlanke Fesseln.
„Seht mal an! Der Minister!“
Aber sie verziehen es der Mademoiselle nicht ganz, daß sie ihr Gesicht verbarg. „Vielleicht hat sie eine krumme Nase.“
Nicole de Saint-Roch schlug auch in der kühlen, stillen Vorhalle des Krankenhauses den Schleier nicht gleich zurück. Sie hatte keine krumme Nase, wie die Spottvögel vermuteten, aber sie war totenblaß. Sie trat rasch auf die breite Gestalt zu, die lautlos im Hintergrund der Halle auftauchte. Die großen weißen Flügel an der Haube der Nonnenschwester schwammen durch das halbe Licht wie die Segel eines Schiffes. Nicoles Lippen formten eine schnelle Frage, aber sie sprach sie nicht aus. Die Schwester senkte das Haupt.
„Der Herr Professor erwartet Sie, Mademoiselle.“
Nicole lief die breite Treppe hinauf. Es war nicht angemessen, in diesem Haus zu laufen. Aber sie hielt es nicht mehr aus. Das Warten. Das Nichtwissen. Die stumme, kühle Feierlichkeit der Empfangshalle — wie in einem Krematorium.
Professor Riquet schien sie gehört zu haben. Er trat in die Tür seines Zimmers und sah ihr entgegen, als sie den Flur betrat.
Die Klinik von Professor Riquet an der Rue Claude Bernard gehörte nicht zu den großen und dennoch zu den berühmtesten Krankenhäusern von Paris. Seit der Krebsforscher Pirello selbst ein Opfer der Krankheit geworden war, die er sein Leben lang bekämpfte, gab es in Frankreich keine besseren Kenner des Krebses als Professor Riquet und Dr. Fauve, die beide seinerzeit Pirellos Assistenten gewesen waren. Beide lehrten heute an den Universitätskliniken. Daneben unterhielt Riquet seine Klinik und Fauve eine Privatpraxis.
„Nicole, da bist du!“
Der Professor streckte dem Mädchen beide Hände entgegen und zog sie in sein Zimmer. Er sah abgespannt aus. Hinter den Brillengläsern kniff er die klugen Augen ein wenig zusammen. Die breite, stattliche, etwas beleibte Gestalt hielt sich gebeugt. Heute sah man ihm nicht an, daß er ein ungewöhnlich junger Träger des Professorentitels war. Er neigte sich vor und küßte das Mädchen vorsichtig auf die Wange, trotz des Schleiers. Sie wandte das Gesicht zur Seite, als nehme sie den Kuß nur widerstrebend an. Sie entzog ihm ihre Hände.
„Sagen Sie schnell, Professor: er — lebt?“
Ein wenig schmerzte es ihn doch, daß sie ihn mit Sie ansprach. Es bedeutete nichts. Unter den Gebildeten Frankreichs sagen auch Eheleute in manchen Situationen Sie zueinander, ohne daß das einen Mangel an Sympathie oder an Liebe zu bedeuten braucht. Und Riquet und Nicole waren noch nicht Eheleute.
Riquet lächelte. „Natürlich. Ihr Herr Vater hat die Operation soweit glänzend überstanden —“
„Was heißt: soweit?“ fragte sie heftig.
„Es bedeutet nichts Besonderes. Es bedeutet nur, daß er noch schläft. Ich habe ihn noch nicht sprechen können —“
„Kann ich ihn sehen?“ Sie ließ ihn keinen Satz ganz zu Ende sprechen. Seine weithin bekannte Gelassenheit litt nicht darunter.
„Ich bitte um Geduld. Sie dürfen keine Angst haben, Nicole. Es ist trotzdem lieb von Ihnen, daß Sie so früh kamen —“
„Der Minister gab mir seinen Wagen.“ Sie zog unruhig die Handschuhe ab, warf sie auf den Tisch und nahm den Schleier vom Gesicht. Der stark geschminkte kleine Mund glühte unnatürlich in dem blassen, feinen Gesicht. Sie erschrak. Lautlos war eine Schwester eingetreten. Sie flüsterte dem Professor etwas ins Ohr. Nicole verschlang sie mit Blicken.
„Wartest du bitte ein paar Minuten, Nicole? Ich werde gerufen —“ „Zu ihm?“
Riquet lächelte. „Zu ihm. Dein Vater ist aus der Narkose erwacht.“
*
Professor Jaques Riquet ging langsam und nachdenklich über den Korridor und schloß die Knöpfe seines weißen Mantels. Erst als er die Hand auf eine Türklinke legte, gab er sich einen kleinen Schwung, als komme er freudig und eilig herein, und brachte ein beinahe pfiffiges Lächeln auf seinem Gesicht zustande.
Aber als er die Schwelle überschritt, kostete es ihn doch eine Sekunde höchster Selbstbeherrschung, um sich ein neuerliches Erschrecken nicht anmerken zu lassen.
Auch der Kopf des Ministerialrats de Saint-Roch lächelte aus den weißen Kissen. Aber dieser verfallene Greisenkopf trug allzudeutlich die Zeichen, die ein erfahrener Arzt nicht mißversteht. Innerlich stellte sich für den Professor eine bestürzende Parallele zu diesem intelligenten, feurigen, jetzt so veränderten Gesicht mit der stark vorspringenden Nase her: Clemenceaus Totenmaske.
Aber der Arzt beherrschte sich gut. Fast gutgelaunt zog er einen Stuhl neben das Krankenbett. „Nun, mein lieber Patient, wie haben wir es überstanden?“
Er hatte selbst von diesem müden Mann eine schnelle Antwort erwartet, denn Saint Roch sprach sein Leben lang schnell und temperamentvoll. Aber jetzt stellten sich um die Augen des Kranken ganz allmählich die Fältchen eines fast belustigten Lächelns ein, und dann kamen leise, einzeln, tropfenhaft, sehr klare Worte: „Das — frage — ich — Sie!“
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