„Sie können alle Dokumente jederzeit einsehen“, sagte Lieuwe endlich.
„Alle?“ fragte Siloque. „Noch mehr Dokumente?“
„Erlauben Sie —“ unterbrach Riquet. Er hob den Kopf und gleichzeitig eine Hand. Seine Sätze kamen jetzt so akzentuiert und klar, als setze er seinen Studenten einen Lehrsatz auseinander. „Ich halte es für richtig, wenn wir deutlich ausdrücken, um was es sich handelt.“ Wenn das wirklich seine Absicht war, so zeigte der Professor erstaunliche Kühnheit, denn schließlich betraf die Angelegenheit ihn am meisten: Er sagte: „Saint-Roch ist an einer ungewöhnlich rapiden Art von Krebs verstorben. Nach unserer Kenntnis kommt dieser galoppierende Krebs nur zustande, wenn Saint-Roch den von Pirello entdeckten Stoff aufgenommen hat. Es ist aber beinahe unvorstellbar, daß er diesen seltenen Stoff durch einen Zufall aufgenommen hat. Folglich müßte er ihm absichtlich beigebracht worden sein. Das würde aber Mord bedeuten. — Folgen Sie mir?“
„Hm!“ brummte Fauve und nickte. Riquet fuhr sogleich fort: „Nach unserer Kenntnis ist diese Substanz aber nur Doktor Fauve und mir bekannt. Ein etwaiger Mordverdacht fällt in erster Linie auf uns beide.“
Riquet sah triumphierend von einem zum andern, als sei ihm soeben ein glänzender wissenschaftlicher Beweis gelungen. Lieuwe fuhr sich erregt über das silberne Haar. Kommissar Siloque aber sagte mit fast teilnahmsloser Ruhe: „Kompliment zu Ihrem Mut, Professor! Dann lassen Sie uns auch gleich erwähnen, daß Saint-Roch sehr reich war und daß Sie mit seiner Tochter verlobt sind, nicht wahr? Danach würden Sie zuerst ins Kreuzfeuer geraten.“
„So ist es wohl“, entgegnete Riquet etwas unruhig, aber ohne Rückhalt. Rechtsanwalt Lieuwe räusperte sich und sagte leise, indem er sein Glas erhob: „Eine Gesellschaft von vier Herren, in der mit solchem Freimut gesprochen wird, werde ich kaum ein zweites Mal erleben, und ich bin glücklich, dabei sein zu dürfen.“ Er trank. Fauve verzog spöttisch die Lippen. War das Pathos dieses Mannes eine Art Kundendienst, oder kam es aus ehrlicher Ergriffenheit? Die Lage war allerdings einzigartig. Zwei weitbekannte Ärzte, die hier vor Zeugen dabei waren, aus ärztlicher Verantwortung Peinlichkeiten gegen sich selbst auszuhecken! Nur Siloque blieb trocken bei der Sache:
„Monsieur Fauve, haben Sie irgendeine Vermutung, wer Ihnen das Wort ‚Pirello‘ auf den Rezeptblock geschrieben haben kann?“
„Die Vernehmungen beginnen“, seufzte Fauve. „Es kann nur einer der Patienten des Tages gewesen sein. Es waren acht. Eine Liste ihrer Namen liegt ebenfalls bei Monsieur Lieuwe. Vier von ihnen sind mir näher bekannt und kommen höchstens in zweiter Linie in Frage.“
„Und Ihre Sprechstundenhilfe?“
„Theoretisch auch sie. Praktisch scheint es mir ausgeschlossen.“
„Hm. Wissen Sie, wer im Theater in Ihrer Nähe saß?“
„Links von mir eine ältere Dame mit einem Lorgnon und Spitzenschal, prädestiniert zur gestrengen Schwiegermutter; rechts ein Turteltaubenpärchen, das sich beunruhigend oft schnäbelte. Ich habe darüber eine Notiz gemacht, die bei Monsieur Lieuwe liegt und von ihm nach seinen Beobachtungen ergänzt und bestätigt wurde. Über die Namen weiß ich natürlich nichts.“
„Enorm!“ sagte Siloque. „Ihre Sicherheitsvorkehrungen sind erstaunlich.“
Fauve sah den Kommissar stirnrunzelnd an. „Wundert Sie das bei einer Sache von solchem Gewicht? Ich sagte Ihnen ja, was ich befürchtete.“
Kommissar Siloque lächelte freundlich. „Trugen Sie früher einen Schnurrbart?“
„Wie bitte?“ Fauve sah entgeistert aus.
„Es ist noch nicht lange her, daß Sie ihn abschneiden ließen, nicht wahr?“
„Ja; aber kennen Sie mich denn von früher?“ fragte Fauve verwirrt.
Siloque lachte polternd. „Mir fiel nur auf, daß Sie so oft nach der Oberlippe greifen.“
Fauve stimmte in das Lachen ein, aber es klang nicht ganz echt. Siloque war der einzige, an dessen breitschultrigem Phlegma die quälende Spannung dieser Lage abzuprallen schien. Er stocherte mit einem abgebrannten Streichholz in seinem Pfeifenkopf herum und fragte: „Können Sie nachweisen, ob die Krankheit durch den Pirelloschen Stoff hervorgerufen wurde?“
Die Ärzte wechselten einen Blick. Ja, das war die entscheidende Frage, vor der sie sich fürchteten, obwohl sie ja im Grunde hierher gekommen waren, um sie zu erörtern. Und Siloque sprach sie gelassen aus. Endlich sagte Riquet: „Vielleicht.“
„Was heißt vielleicht?“
Fauve schaltete sich ein: „Ich nenne diesen Reizstoff Aminyl, ohne dadurch sein Geheimnis zu verraten. Wenn wir Aminyl im Körper nachweisen, gibt es keinen Zweifel. Wenn wir es nicht nachweisen, hat es sich vielleicht schon zersetzt.“
„Das heißt“, sagte Siloque, „wenn Sie es nachweisen können, ist der Mordverdacht unbezweifelbar und amtlich?“
„Ja, Monsieur“, sagte Riquet starr.
„Man müßte ihn exhumieren?“
Niemand sprach. Die Kerzen auf den silbernen Leuchtern flackerten etwas. Die Ärzte blickten stumm auf die Tischplatte. Siloque erriet ihre Gedanken. Die Entscheidung war schwierig, der Skandal kaum zu vermeiden. Er sagte: „Meine Herren, ich mache Ihnen einen Vorschlag. Wir wollen diesen Kreis als ein Schiedsgericht betrachten und eine Abstimmung herbeiführen. Eine geheime Abstimmung. Sie kann Ihnen, den beiden Ärzten, die Entscheidung zwar nicht abnehmen. Deshalb sollen Sie dadurch auch nicht gebunden sein. Aber es kann Ihnen den Schritt wohl erleichtern, wenn Sie wissen, wie wir alle vier darüber denken, jeder für sich und vor seinem Gewissen, wenn niemand Rücksicht zu nehmen braucht. Was denken Sie?“
Die Erleichterung über diesen ausgezeichneten Vorschlag war so groß, daß für einige Minuten eine beinahe heitere Stimmung aufkam und die lähmende Spannung wich. Lieuwe wurde mit der Durchführung der sonderbaren Abstimmung betraut. Sie tranken und machten Vorschläge wie die Schulbuben.
Nur Riquet war stiller. Er war aufgestanden und betrachtete im Hintergrund des Raumes eine alte Büchse, die an der Wand hing und im Kerzenschimmer funkelte. Lieuwe händigte endlich jedem zwei Karten aus. Jeder erhielt eine weiße Karte und eine, die mit einem Kreuz gezeichnet war. Sie starrten alle auf die Bleistiftkreuze und waren sofort vollkommen ernst. Lieuwe stellte ein Kupfergefäß auf den Tisch. Er sagte:
„Wer für die Exhumierung stimmt, legt die Karte mit dem Kreuz in den Topf. Ich habe mir die Kreuze nicht angesehen. Trotzdem erkläre ich, daß ich diesen Wahlakt als Notar vornehme, nicht als Privatperson. Sie sind also auf alle Fälle durch meine notarielle Schweigepflicht geschützt.“
„Hoffentlich ohne Honorar“, brummte Siloque, aber niemand reagierte.
„Ich lege jetzt meine Karte hinein“, verkündete Lieuwe. „Wollen Sie bitte das Gefäß um den Tisch, gehen lassen. Die nicht benutzten Karten nehmen Sie mit nach Hause und vernichten Sie dort.“
In vollkommener Stille wurde diese Abstimmung vollzogen. Sofort, als er seine Karte abgelegt hatte, erhob sich Professor Riquet abermals und ging lautlos auf dem tiefen Teppich auf und ab. Jeder war ängstlich bemüht, den anderen nicht auf die Finger zu sehen.
Lieuwe nahm mit einer gewissen Feierlichkeit die Karten aus dem Gefäß und legte sie auf den Tisch. Er sprach nicht. Sie blickten jetzt atemlos auf sein Gesicht, dann auf seine Hände. Er deckte die Karten auf. Eine von ihnen war weiß. Die drei anderen zeigten das Kreuz.
Mit einer impulsiven Bewegung griff Fauve über den Tisch und drehte die weiße Karte herum. Aber sie war auch auf der andern Seite weiß.
„Pardon!“ murmelte Fauve, wandte zögernd den Kopf und blickte Riquet an. Auch Lieuwes Blick folgte der gleichen Richtung.
Siloque räusperte sich. „Haben Sie noch eine Flasche Bier?“
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