Die Matrosen folgten zwar dem Befehl; aber man sah am Ausdruck ihrer Gesichter, daß sie an ein natürliches Verschwinden des Schiffes nicht glaubten. Der Erste Offizier trat heran und sagte:
»Offen gestanden, Captain, ich kann mir nicht denken, daß der alte Porquez bei verhältnismäßig ruhiger See völlig den Kurs verliert.«
»Ich auch nicht«, antwortete Jardin, »ich habe manches Meer mit ihm durchkreuzt, als er noch Kapitän der »Trueno« war. Senor Porquez wußte immer, wo das Schiff
stand oder auf welchen Kurs er zu gehen hatte, wenn wir tatsächlich einmal abgetrieben worden waren.«
»Ja, und — was, glaubt Ihr, ist nun wirklich passiert?« »Ich kann mir keinen Reim darauf machen, Mr. Corner.« »Vielleicht — Meuterei?«
»Weshalb sollten die Leute meutern. Sie bekamen anständige Heuer und waren außerdem am Gewinn beteiligt. Der Dienst war leicht, und das Schiff ist so solide gebaut, daß man sich auf seinen Planken wie in Abrahams Schoß fühlt.«
Sie unterhielten sich noch eine Weile und kamen dabei auf die ausgefallensten Vermutungen. Nur an die Gefangenen im Kielraum dachte niemand.
»Wir können nichts tun als abwarten«, sagte Jardin. »Wir wollen wenigstens die »Lundi« und die »Dimanche« sicher nach Diamond Harbour bringen. Schätze, daß die Kompanie nicht gerade begeistert sein wird über unsere erste Fahrt.«
»Meint Ihr nicht, daß die Gräfin wieder zu uns stoßen wird?«
»Quien sabe — wer weiß?« antwortete Jardin.
Als sich die drei Reiter ein paar Meilen von Bihar entfernt hatten, zügelte Tscham sein Pferd. »Was gibt es?« fragte der Pfeifer. »Wir sind noch lange nicht in Sicherheit. Wir müssen sehen, daß wir ein anständiges Stück Weg hinter uns bringen, damit du außer Gefahr bist.« »Aber ich will ja gar nicht die Gefahr fliehen. Ich will um mein Recht kämpfen. Wir werden die Thags aufsuchen und Bihar mit ihnen befreien.«
»Du siehst die Situation falsch«, antwortete Michel. »Auch die Thags werden nicht stark genug sein, um gegen die Kanonen der Kompanie zu kämpfen. Sieh zurück. Am Horizont kannst du noch den Feuerschein erkennen. So wie dort dein Palast brennt, wird ganz Bihar in Flammen aufgehen, wenn du die Thags zum Kriege hetzt.«
Tscham wurde nachdenklich. Die letzten Worte seines Lehrers und langjährigen Freundes Sadharan klangen noch in seinen Ohren. Hatte Sadharan nicht gesagt, daß Indien und damit auch Bihar nur auf friedlichem Wege zu befreien war? Hatte er ihn, Tscham, nicht ausdrücklich davor gewarnt, das Land mit Krieg zu überziehen? — Dennoch war der Rachedurst stärker als die Vernunft.
»Ich will Rache haben. Verstehst du das nicht?«
»O ja, ich verstehe nur zu gut. Alle Menschen wollen sich für das rächen, was man ihnen angetan hat. Aber der Rachedurst entspringt dem Instinkt. Er hat mit Geist oder Verstand nichts zu tun. Wut und Zorn sind Gefühle, deren Spitzen sich im Lauf der Zeit von selbst abschleifen. Man soll solchen Regungen nicht rasch nachgeben. Rache führt zu nichts. Rache erzeugt wieder Rache. So entsteht der ewige Kreislauf von Mord und Krieg. Und niemand sieht, daß diese beiden nur auf dem Misthaufen der menschlichen Dummheit und Unzulänglichkeit gedeihen können.«
Tschams Augen blitzten. »Das heißt, daß du mich für dumm hältst.«
»Nein. Nur für ein wenig zu jung, um schon ein festgefügtes Weltbild zu haben.«
»Haben deine Freunde aus der Kompanie ein solches?«
»Ja. Aber ein falsches. Und zudem sind sie nicht meine Freunde.«
»Sie sind doch aber nicht zu jung. Weshalb sind sie unzulänglich?«
»Weil sie engstirnig sind. Weil sie nichts sehen als den augenblicklichen Vorteil, als Geld und Reichtümer. Aber der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Ein Volk, das nur nach Brot strebt, verkümmert geistig. Und wenn der Geist verkümmert, dann ist dies der Anfang vom Ende.« »Du meinst also, daß die Engländer dem Ende entgegengehen?«
»Nimm das nicht wörtlich. Und denke nicht an heute und morgen. Aber wenn der Geist nicht doch noch die Oberhand gewinnt, dann vielleicht in zweihundert, dreihundert oder vierhundert Jahren. Hundert Jahre sind ein Nichts im Leben eines Volkes.«
»Aber wie ist es mit Indien? Wir haben tausend, zweitausend Jahre lang eine Fülle von Geist gehabt. Und wo stehen wir heute?«
»Frag lieber, wo ihr morgen stehen werdet, wenn ihr euch den Geist erhaltet. Glaubte nicht Sadharan, ein großer Weiser, an die Freiheit Indiens durch die Gewaltlosigkeit?« »Ja, du hast recht. Aber was soll jetzt mit mir werden?«
»Du bleibst bei mir, solange es dir gefällt. Ojo und ich werden dich beschützen. Wir sind deine Freunde.«
»Und wenn ihr das Land verlaßt?« »Wir verlassen es nicht ohne dich, Tscham. Vorausgesetzt, daß du bei uns bleiben willst. — Reiten wir weiter.«
Tscham sah grübelnd auf den Hals seines Pferdes.Noch oftmals wandte er den Kopf zurück, bis der Widerschein des brennenden Palastes nicht mehr zu sehen war.
Die drei ritten nebeneinander. Michel und Ojo hatten den jungen Radscha in ihre Mitte genommen.
Nach einer Weile fragte Tscham: »Was ist unser Ziel?« »Zunächst Kalkutta«, antwortete Michel. »Werden sie mich dort nicht verhaften?«
»Es kennt dich dort niemand. Du bist ganz einfach irgendein Junge, der uns den Weg gezeigt hat, wenn man dich fragt. Keiner wird sich Gedanken darüber machen, daß du der Radscha von Binar sein könntest.«
Tscham nickte still. Er war mit allem einverstanden. Er malte sich im Augenblick noch keine Zukunftsbilder; denn er war damit beschäftigt, den immer wieder aufkeimenden Drang nach Vergeltung zu unterdrücken. Alle Vernunftsgründe Sadharans, soweit er sich ihrer noch erinnern konnte, bot er auf, um den Lockungen der Rachegöttin zu widerstehen.
Als der erste Schein der Morgenröte heraufkam, erreichten sie einen kleinen Ort.
»Hier sind wir schon außerhalb von Bihar«, sagte Tscham. »Dieses Dorf gehört nicht mehr zu meinem Fürstentum.«
»Ich denke, wir machen im nahen Wald eine Rast«, sagte Michel.
Und so geschah es. Sie durchritten den Ort und suchten sich dann abseits des Weges ein schattiges Plätzchen, auf dem sie den versäumten Schlaf nachholten. —
Gegen Mittag, als sie von den mitgeführten Vorräten gezehrt und die Pferde in einem nahen Bach getränkt hatten, setzten sie ihre Reise fort.
»Wir werden scharf nach Süden reiten«, meinte Michel.
»Wenn wir zu nah an die große Straße kommen, steigt die Gefahr des Entdecktwerdens.« »Wirst du in dieser weg- und steglosen Gegend auch nicht die Richtung verfehlen?« fragte Tscham besorgt.
»Nein. Am Tag können wir uns nach der Sonne und nachts nach den Sternen richten. Wir kommen schon zum Ziel.« -
Bald war Steppe unter den Hufen der Pferde. Sie trafen kaum noch auf Reisplantagen. Es hatte den Anschein, als verirre sich nur selten ein Mensch in diese Gegend. Sie ließen die Pferde weit ausgreifen; aber sie jagten sie nicht.
»Wie lange wird es dauern, bis wir nach Kalkutta kommen, Senor Doktor?« fragte Ojo und gähnte.
»Oh, wenn wir uns nicht zu sehr beeilen, höchstens vierzehn Tage«, lächelte Michel. »Vierzehn Tage?« Ojo blickte ihn entsetzt an. »Vierzehn Tage bei Quellwasser und Reis? Heilige Mutter Gottes, wer soll das aushalten?«
»Du und ich und Tscham. Haben wir nicht schon viel größere Strapazen gemeinsam bestanden, amigo?«
»Si, si«, erwiderte Ojo. »Wo werden wohl jetzt unsere companeros sein?« »Irgendwo im Indischen Ozean wahrscheinlich.« »Dort ist es sicher nicht so eintönig wie hier.«
»Vielleicht sind sie auch schon wieder in Kalkutta«, sagte Michel und überschlug die Zeit seit ihrer Trennung.
»Und wenn wir ankommen, dann sind sie wieder weg, und wir müssen uns vielleicht noch eine
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