Der Leutnant mochte einsehen, daß er sich etwas zu sehr hatte gehenlassen. Er wurde rot und stotterte verlegen.
»Verzeiht die Frage. Ich wollte nicht ungezogen sein.«
»Immerhin erfreulich, daß Ihr Eure unpassenden Worte wenigstens selbst einseht.« Der junge Mann knallte die Hacken zusammen und verließ das Zimmer. Lord Hawbury ging unruhig auf und ab. Bruchteile des Briefes gingen ihm durch den Kopf. Er hätte es nie für möglich gehalten, daß sich die obersten Herren der Kompanie zu einem solchen Zynismus versteigen konnten. Und hier war der Zynismus nicht nur angedeutet, sondern war offen zutage getreten, so offen, daß auch der dümmste nicht darüber hinwegsehen konnte. In drei, vier Tagen konnte das Regiment — ein ganzes Regiment zur Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung — hier sein.
Sollte er der Weisung des Generalgouverneurs Folge leisten und Tscham benachrichtigen? Sollte er lieber schweigen, bis der Radscha vor vollendeten Tatsachen stand? Er blickte grübelnd zum Fenster hinaus.
Der Pfeifer! Jawohl, Mr. Baum konnte vielleicht helfen. Er würde sicherlich einen Ausweg finden.
Er ging in den Garten. Die beiden wohnten noch immer im Zelt. Sie hatten keine Lust, in das Innere des Hauses zu ziehen. Sie brauchten Luft, viel Luft. Und hier hatten sie Luft. Michel saß vor dem Zelt und rauchte eine Pfeife. Als er Hawburys ansichtig wurde, erhob er sich.
»Mr. Baum, habt Ihr einen Moment Zeit für mich?« fragte der Lord höflich. »Natürlich, Sir, für Euch immer!« Michel verbeugte sich leicht.
»Gehen wir ins Zelt.« Michel zögerte.
»Ojo ist noch beim Aufräumen, Sir. Aber wenn Ihr Euch an dem Durcheinander nicht stoßt, bitte.« Er zog die Türklappe beiseite.
»Hier, Mr. Baum, ich habe wieder einen Brief aus Kalkutta erhalten. Wollt Ihr ihn lesen, bitte?« Michel nahm das Schreiben. Während er die Zeilen überflog, verdüsterten sich seine Züge. Schweigend gab er das Papier zurück. »Und?« fragte der Lord nach einer Weile.
»Ich glaube«, sagte Michel langsam, »wir dienen der falschen Seite.« Hawbury nickte schwer.
»Wenn ich nicht noch eine andere wichtige Aufgabe hätte, würde ich sofort meinen Abschied nehmen. Aber so--?«
»Hm«, meinte Michel, »und was das schlimmste ist, im Norden und Osten des kleinen Fürstentums herrscht tatsächlich Unruhe, wie ich gestern abend erfahren habe.« Hawbury fuhr auf.
»Was!? Weshalb weiß ich nichts davon?«
»Tscham wollte nicht, daß die Kompanie etwas davon erfährt, weil er gerade das, was nun geschehen ist, vermeiden wollte.« »Wie kamen diese Unruhen zustande?«
»Die erste Amtshandlung Tschams war ein Erlaß, nach dem die Bauern den Grundherren nicht mehr zinspflichtig sind. Auch die Höhe der direkten Steuern an den Hof ist um mehr als die Hälfte gesenkt worden. Die Grundbesitzer wollen sich natürlich nicht daran halten, sondern verlangen von den Bauern nach wie vor fünf Tage in der Woche Frondienste. Tscham ist ein guter Junge, aber auch ein Hitzkopf. Sadharan warnte ihn; aber er hat nicht auf diese Warnung gehört. Er wollte gleich das Kastenwesen auf einmal abschaffen. Dazu ist aber die Zeit noch nicht reif.« Hawbury nickte.
»Reformen müssen wachsen. Kein Herrscher kann sie mit Gewalt auf einmal durchsetzen. Das hat nicht einmal Euer großer Preußenkönig zuwege gebracht.«
Beide sahen zu Boden. Michel dachte an Berlin und Hawbury an London. Aber das brachte keine Lösung des Problems Bihar.
»Well, General, wir können nichts tun, gar nichts. Geht hin zu Tscham und überbringt ihm die Kunde des Generalgouverneurs. Wir können nur auf unser Glück vertrauen.« »Ja«, sagte Hawbury. Dann blickte er plötzlich auf. »Pfui Teufel, es ist eine Schande, daß man in so einer Sache steckt!«
Wenn Lord Hawbury dachte, daß er mit seiner Nachricht etwas Neues brachte, so hatte er sich geirrt. Die Audienz wurde ihm fast augenblicklich gewährt. Aber sie fand nicht wie üblich im Thronsaal statt. Tscham empfing den General im englischen Pavillon, der seit dem Tod seines Vaters auch sein liebster Aufenthaltsplatz geworden war. Nur Sadharan war bei ihm. »Exzellenz?« fragte er, »womit kann ich Euch dienen?«
»Hoheit werden verzeihen, daß ich zu so ungewöhnlicher Stunde meine Aufwartung mache.
Aber ich habe wichtige Nachrichten aus Kalkutta.«
Ein Schein des Unmuts flog über das Gesicht des jungen Radscha.
»Aus Kalkutta«, sagte er, »wohl von Hastings, wie?«
»Ganz recht, Hoheit.«
»Na, dann laßt hören, was er uns vorzulügen versucht.«
Der Lord war betroffen. In so offenem Ton sprachen Fürsten im allgemeinen nicht. Nun, Tscham war eine Ausnahme. Man mußte sich daran gewöhnen.
»Der Generalgouverneur schickt Euch ein Reiterregiment, damit die Ruhe und Ordnung in Euerm Land aufrechterhalten werden können. Man glaubt in Kalkutta, daß der Tod Eures Vaters verschiedene Reaktionen ausgelöst hat. Sir Warren Hastings entbietet Euch seinen Gruß und läßt Euch ausrichten, daß er sich an den Vertrag zwischen der Ostindien-Kompanie und Euerm Vater nach wie vor gebunden fühle, obwohl die Zahlungen des letzten Vierteljahrs noch ausstehen.« Tscham wollte eine heftige Erwiderung geben. Aber Sadharan ergriff schnell das Wort. »Bitte, Lord Hawbury, versichert den Generalgouverneur des uneingeschränkten Wohlwollens Seiner Hoheit. Drückt ihm auch unser Bedauern über die Verzögerung des Tributes aus und übermittelt ihm, daß wir uns bemühen werden, das Versäumte so schnell wie möglich nachzuholen.«
Ich denke nicht daran«, rief Tscham leidenschaftlich dazwischen. »Sagt ihm, General, daß ich seine Truppen nicht brauche. In meinem Land kann ich selbst für Ordnung sorgen. Die Tribute werden von jetzt an eingestellt.Wir haben kein Geld mehr für solche Extraausgaben. Berichtet nach Kalkutta, daß es unsere erste Regierungsmaßnahme war, die Steuern zu senken. Mein Ziel ist es, einen Staat von zufriedenen Menschen zu regieren.« Lord Hawbury richtete sich auf. Ruhig erwiderte er:
»Verzeiht, Hoheit, ich werde lieber die Worte Eures Ratgebers nach Kalkutta mitteilen.« Sadharan nickte. Aber Tscham war wie ein junges Fohlen.
»Nein — nein — nein«, rief er. »Ich kann diese Intrigen nicht mehr mit ansehen. Für mich gibt es nur eine höchste Instanz. Das ist der Peschwa, und über diesem steht der Großmogul in Delhi. Eure Kompanie interessiert mich nicht. Wir sind freie Inder und lassen uns nicht von hergelaufenen Krämern regieren!«
Lord Hawbury neigte das Haupt. Er war nicht im geringsten beleidigt. Im Gegenteil, der junge Radscha hatte ja nur allzu recht. Aber das 2. Sipoy-Regiment zu Pferde war im Anmarsch. Und der Kommandeur hatte sicherlich seine festumrissenen Orders. Junge, ehrgeizige Offiziere wollten Ruhm und Ehre erwerben. Sie sahen nur den augenblicklichen Erfolg und nicht die Schande, die sie auf Englands Fahne häuften. Lord Hawbury hätte sich am liebsten an die Spitze der einheimischen Truppen gestellt. Aber er wollte nicht in London als Verräter gebrandmarkt werden. Er dachte an seine Kinder, an Isolde und an Steve, er dachte aber auch daran, daß seine
Vorfahren in früheren Jahrhunderten mit Robin Hood für die Magna Charta gekämpft hatten. Die ganze Situation war zum Verzweifeln. Da ergriff Tscham wieder das Wort:
»Hört General, ich habe bisher den Eindruck gehabt, daß Ihr Euch von Euren Vorgesetzten in Kalkutta gewaltig unterscheidet. Ihr seid in Gesellschaft zweier Männer, deren Verhalten mich zu dieser Meinung gebracht hat. Was sagt Mr. Baum dazu?«
Sadharan bemerkte, wie es in Lord Hawbury aussah. Wieder sprach er mit seiner ruhigen Stimme:
»Ihr dürft die Worte Seiner Hoheit nicht falsch auslegen, Exzellenz. Seine Hoheit sind in der Politik noch nicht sattelfest. Ich möchte Euch nochmals bitten, meine Worte an den Generalgouverneur zu richten und alles andere zu vergessen.«
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