»Was ist nun wieder passiert?« fragte Hawbury.
Michel sprang über die Verandabalustrade hinab in den Garten. Er ging ins Zelt, um seine Büchse zu holen. Dann sagte er zu den beiden, die oben stehengeblieben waren: »Ich werde es herausfinden.« Er verschwand um die Hausecke.
Auf der Straße hatte sich ein Menschenhaufen angesammelt, der ständig wuchs. Die Haltung wurde immer drohender. In diesem Augenblick kamen zwei Reiter herangejagt und verhielten ihre Pferde vor dem Bungalow. Der eine, ein Offizier der Palastwache, rief ihnen auf Hindustani etwas zu.
Das Geschrei flaute ab. Und nachdem der Offizier das Wort abermals ergriffen hatte — zu einer längeren Erklärung, wie es schien — begann sich die Masse zu zerstreuen.
Michel beherrschte den Dialekt noch nicht so, daß er alles verstehen konnte. Dennoch meinte er herausgehört zu haben, daß von dem Radscha, von Mord und von einer Sikhwaffe die Rede gewesen sei.
Er ging ins Haus zurück.
Seine dürftige Erklärung befriedigte den General keineswegs.»Vielleicht fragt Ihr Fox?« sagte der Pfeifer. »Ich habe den Eindruck, daß die Ansammlung der Menschen mit dem gestrigen Attentatsversuch zusammenhing. Vielleicht ist es doch herausgekommen.« Der General rief nach Fox. Fox kam. Seine Augen waren glasig. Mit der Faust hielt er den Hals einer Whiskyflasche umklammert. Er schwankte.
»Nehmt Euch zusammen«, fuhr ihn der General an. »Wollt Ihr nicht erklären, weshalb Ihr diesen Mann erschießen wolltet?«
»Der ha — ha — hat—hat den Ra—Radscha ermordet«, lallte Fox. Der General und Michel blickten einander an.
»Ihr seid betrunken, Mann. Ihr seht Gespenster. Ihr wißt so gut wie ich, daß das Attentat mißglückte«, sagte Hawbury.
Fox setzte die Flasche an den Mund. Ein Grinsen lag auf seinen Zügen.
»Mi — mi — mißglückte — ja, gestern. Aber heute Radscha tot, Radscha tot — wie eine Ratte — wie eine Maharatte.«
Der Lord riß ihm die Flasche aus der Hand und warf sie in den Garten.
»Zum Teufel, kommt zu Euch! Wollt Ihr vielleicht sagen, daß der Radscha heute ermordet worden ist?«
Fox versuchte, sich zusammenzureißen.
»Yes, General. Und der da« — er deutete auf Machar -»hat ihn umgebracht.« »By God« war alles, was Hawbury sagen konnte.
»Welch ein Wahnsinn«, ergänzte Michel kopfschüttelnd. »Das heißt also, daß nun der junge, tatkräftige Tscham Radscha ist.« Plötzlich meldete sich Machar.
»Ja, Sahibs, ich habe ihm die Sikhscheibe in den Hals geschleudert. Dieser da« — er blickte Fox an — »hat mich dazu getrieben.«
Er schilderte den ganzen Vorgang von Anbeginn an. Seine Vernunft schien zurückgekehrt zu sein.
»Bringt mich schnell weg von hier«, bat er abschließend. »Ich bin keine Stunde meines Lebens mehr sicher; denn am Gebrauch der Sikhwaffe werden sie erkennen, daß ich es war. Es gibt in diesem Gebiet nur ganz wenige Thags, die damit umgehen können. Die Thags selbst werden es sofort herausbekommen. Bringt mich weg.«
»Diaz«, sagte Michel, »bring den Mann in unser Zelt und verbirg ihn.«
Diaz nickte, nahm den Gefesselten auf die Schultern und sprang mit der Last in den Garten hinab. Michel, Fox und Hawbury begaben sich ins Arbeitszimmer des Generals. Schweigend saßen sie eine Weile in den Sesseln.
Dann nahm Hawbury das Wort.
»Wir müssen uns darüber klar sein, daß wir in diesem Augenblick vor einer völlig veränderten Situation stehen, ich habe noch keine Vorstellung, wie wir sie meistern können. Am besten ist es, Ihr, Fox, reitet sofort nach Kalkutta und überbringt die Nachricht dem Generalgouverneur.« »Ich würde es für gut halten«, schaltete sich Michel ein, »wenn Ihr den Inder mitnehmt. Er hat letztlich in Euerm Auftrag gehandelt, um den sonderbaren Kontrakt zu erfüllen. Der einzige Ort, an dem er vor der Verfolgung der Thags sicher ist, ist Kalkutta. Ich werde ihm das begreiflich machen. Wahrscheinlich aber weiß er es sowieso.« »Gut«, sagte Fox. »Ich werde morgen früh reiten.«
Im Palast herrschte panikartige Aufregung. Tscham war der erste, dem die Nachricht vom Tod seines Vaters überbracht wurde. Er eilte mit Sadharan zur Leiche, die von den Leibwachen bereits in den Gemächern des Rad-scha aufgebahrt worden war. Immer mehr Würdenträger fanden sich ein.
Erschüttert standen sie der unfaßlichen Tatsache gegenüber. Wohl jeder mußte unwillkürlich daran zurückdenken, wie noch vor Stunden die fröhliche und beschwingte Menge sich im Park tummelte. Scheue Blicke trafen den Toten, dessen Asche nun bald den heiligen Fluten des Ganges überantwortet werden würde.
Tscham konnte nur mit Mühe die Tränen zurückhalten. Auf dem Antlitz Sadharans stand die Sorge um die Zukunft seines Schützlings. Von Rechts wegen war Tscham in diesem Augenblick bereits regierender Fürst von Bihar.
Noch in der Nacht versammelten sich die Würdenträger und Khans. In einer stillen Sitzung brachten sie dem siebzehnjährigen Radscha ihre Huldigung dar. Die Offiziere der Leibwache wurden gerufen und nach hindustanischem Ritus auf den neuen Herrscher vereidigt. Sie erhielten noch vor dem Morgengrauen Pergamentrollen, deren Inhalt sie am kommenden Tage auf den Dörfern verkünden sollten. —
Nachdem die offiziellen Geschäfte erledigt waren, zog sich Tscham mit seinem Lehrer in dessen Wohnräume zurück. Als sie allein waren, schluchzte er auf.
»Oh, weiser Mann, nun bin ich der Radscha von Bihar, und ich weiß noch gar nicht, was ich mit dieser Würde anfangen soll.«
»Ja, mein Junge, nun ist die Zeit des freien Spiels vorüber. Du wirst alle Kraft daransetzen müssen, um deinem Volk zu dienen; denn nur der Fürst, der sich zum Dienen verpflichtet fühlt, wird vom Volk geliebt.«
»Ich bin so froh, daß ich wenigstens dich habe! Du wirst doch immer bei mir bleiben?« Sadharan neigte lächelnd den Kopf. »Ja, Hoheit. Ich werde dir dienen.«
»Oh, weiser Mann, sage nicht Hoheit zu mir; denn was ich bin, das bin ich nur durch dich!« Sie führten tiefgehende Gespräche, bis die Sonne heraufkam. Dann erhob sich Sadharan und sagte:
»Ich gehe jetzt zu Lord Hawbury, um ihn von dem Vorgefallenen zu unterrichten.« »Ja, tue das und sage auch gleich meinem weißen Freund, daß ich ihn sehen möchte.« »Willst du ihm eine Audienz gewähren?«
»Kann ich denn nicht einfach mit ihm sprechen, allein, so wie mit dir?«
»Nein, Hoheit«, sagte Sadharan, »von heute an werden stets Wachen, Leibdiener und Khans um dich sein. Dennoch werde ich es möglich machen, deinen Freund mit dir allein sprechen zu lassen. Ich bitte ihn, daß er mich begleitet, und nehme ihn mit in meine Räume. Dann kommst du hinzu. Das ist am einfachsten.«
Tscham sah grübelnd auf die gegenüberliegende Wand. Plötzlich sprang er auf. »Ich werde etwas ändern in Bihar«, sagte er leidenschaftlich. »Meine erste Amtshandlung wird es sein, das Hofzeremoniell aufzuheben. Wenn ich schon Radscha bin, dann soll auch jeder Untertan freien Zutritt zu mir haben. Ich bin unter Bauern groß geworden. Im Innersten bin ich ihresgleichen geblieben.«
»Darüber sprechen wir noch, Hoheit«, sagte Sadharan und verließ das Zimmer. —
Kurz nachdem Fox und Machar nach Kalkutta aufgebrochen waren, näherten sich Träger mit einem Palankin dem Bungalow.
Hawbury und Michel saßen auf der Vorderterrasse und tranken Kaffee. Sie hatten nur kurz geschlafen; denn sie hatten keine Ruhe gefunden. Die Geschehnisse der Nacht zitterten noch in ihnen nach.
»Da kommt ein Würdenträger, General«, sagte Michel, »wahrscheinlich erhaltet Ihr jetzt offizielle Nachricht von dem Mord.«
»Meint Ihr, daß es besser wäre, so zu tun, als wüßten wir noch nichts davon?« »Ich glaube, das ist nicht nötig. Die nächtliche Versammlung der aufgebrachten Massen vor dem Haus hier ist dem Hof sicherlich nicht verborgen geblieben. Denn schließlich hat sie ein Offizier der Palastwache beruhigt und nach Hause geschickt.«
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