»Nein«, wunderte sich Ojo. »Weshalb soll er uns nicht sprechen hören? Versteht er denn Spanisch?«
»O Diaz, denk doch einmal logisch! Wieviel Menschen gibt es zur Zeit in Bihar, die abendländische Sprachen sprechen?«
»Nun, mich, Euch, den General und diesen verdammten Fox.«
»Ganz recht. Das heißt, daß der Thag sofort herausbrächte, wer ihn an der Ausführung seines Verbrechens hinderte. Du mußt doch die Eingeborenen nicht für dumm halten. Hast du etwa auf spanisch geflucht?« Ojo zögerte mit der Antwort.
»Ich weiß nicht, Senor Doktor. Es wäre immerhin möglich.«
»Hoffen wir, daß es nicht so war. Wenn die Nacht hereinbricht, bringen wir den Kerl zum Wald und lassen ihn laufen. Ich gehe jetzt in die Stadt. Bewache ihn weiterhin sorgfältig und fluche nicht laut. Wie hast du ihn versteckt?«
»Ich — ich habe ihn auf den Bauch gelegt, mehrere Diwandecken über ihn gebreitet und seinen Rücken als Sitz benutzt. Bewegen kann er sich nicht. Er ist zu fest verschnürt.« Michel biß sich auf die Lippen, um ein lautes Lachen zu unterdrücken. Auf seine Weise war Diaz zweifelsohne originell. —
Am Abend lud sich der starke Spanier das verschnürte Bündel auf den Rücken. Michel ging spähend vor ihm her. Niemand bemerkte die beiden mit ihrer sonderbaren Last. Das Fest war abgeebbt. Die Bäuche waren schwer geworden vom vielen Essen. Viele Menschen vermochten sich kaum noch zu bewegen. Einmal war ihnen Gelegenheit geboten. Da kannten sie kein Maß und keine Vernunft mehr. Sie, die das Sattsein nur vom Hörensagen kannten, hatten in
sich hineingestopft, was sie erreichen konnten. Einmal nur--und sollte es auch das letztemal sein.
Michel und Ojo erreichten den Rand der Dschungel. Der Pfeifer machte seinem Begleiter ein Zeichen. Ojo warf das Menschenbündel unsanft auf den Boden. Sie ließen ihn liegen, verschnürt und geknebelt, wie er war. Irgend jemand würde ihn schon finden. Sie gingen. Und es dauerte gar nicht lange, so kam ein vollgefressener Bauer seines Wegs. Er hörte ein kaum wahrnehmbares Stöhnen vom nahen Wald her.
Zuerst wollte er sich eilig entfernen. Vielleicht war es ein Geist. Aber plötzlich lachte der Bauer vor sich hin. Ach was, sicher war es einer, dem der Magen wehtat. So hatte er wenigstens einen Gefährten; denn auch ihm war übel.
Das Stöhnen wurde lauter. Und dann fand der Bauer einen gefesselten Menschen. »Wer hat sich diesen Scherz mit dir erlaubt?« Keine Antwort. Wieder nur ein Lallen.
»Ach, du bist sogar geknebelt!« Er schüttelte den Kopf, zog sein Messer und befreite den Gefesselten von den Hanfstricken, die ihn vielfach umschlangen.
»So«, meinte er dann befriedigt, fuhr aber erschrocken zusammen, als er an der Kleidung des anderen den Thag erkannte. »Tu mir nichts«, flüsterte er und warf sich auf die Knie, »tu mir nichts.«
Der Thag kümmerte sich gar nicht um den Jammernden, sondern drang, nachdem er sich vorsichtig umgeschaut hatte, tiefer in den Wald. So mochte er sich eine halbe Stunde lang durch das Schlinggewächs gearbeitet haben, als ihn eine Stimme anrief:
»Steh und sag, wer dir den Auftrag gab.«
»Bhowanee«, antwortete der Ankömmling dumpf.
»Gut, du kannst passieren«, kam die Antwort.
Der Thag hatte das Lager erreicht. Es war eine gespenstische Szene. Überall lagen oder standen Gestalten herum, die genauso gekleidet waren wie der Ankommende. Im Hintergrund war aus Lehm ein primitives Götzenbild errichtet, das, mit Kalk bestrichen, vom Schein zweier Fackeln zum Leben erweckt schien. Eine gräßliche, mordgierige Fratze. Es war das Bildnis der Göttin des Todes, Bhowanees, in deren Auftrag die Thags glaubten morden zu müssen. »Erhebt euch, ihr Trägen«, sagte der Ankömmling, »es ist noch nicht Zeit zu ruhen. Wo ist der, dem ich den Auftrag gab, den Prinzen zu vernichten?« Niemand antwortete.
Plötzlich trat aus dem Unterholz ein Mann hervor.
Beim Klang der Stimme fiel Machar, das war Krimas Vater, zusammen.
»O erhabener Pantscha! Du bist persönlich erschienen?«
»Ja«, sagte der Oberhäuptling streng, »es erreichte mich der Ruf unserer Leute, die nicht einsehen konnten, weshalb du den Auftrag erteilt hast, den Prinzen Tscham umzubringen. Gib Rechenschaft.«
Machar hatte keine Antwort bereit; denn er war nicht auf das Erscheinen des Meisters gefaßt gewesen.
Er stammelte irgend etwas. Aber der Meister unterbrach ihn:
»Ich habe den Eindruck, daß persönliche Dinge der Anlaß deines Befehls waren. Du bist ein schlechter Unterführer. Die Strafe Bhowanees soll nun dich treffen. Bist du bereit, dir die Schlinge selbst umzulegen?«
Das war eine deutliche Aufforderung zum Selbstmord. Machar sollte sich erdrosseln. In der Sekte der Thags herrschten strenge Gesetze.
Machar stand wie zu Stein erstarrt. Die Ehre des Thag kämpfte in ihm mit der Liebe zu seiner Tochter. Ja, wenn er Krima bei diesem Fox in sicherer Hut gewußt hätte! Aber noch war es nicht so weit. Sein Anschlag war mißglückt. Verrat mußte im Spiel sein.Der Meister trat auf ihn zu und reichte ihm eine gelbe Seidenschnur. Gelb war die Farbe der Exekution. Zum Tode verurteilte Thags legten vor ihrer Selbsthinrichtung gelbe Kleider an, wenn dazu Gelegenheit war. Um dem Ritus zu genügen, genügte aber auch eine gelbe Schlinge. Machar machte plötzlich einen Satz nach rückwärts und verschwand im Dunkel des Waldes. Die Thags dachten im ersten Augenblick gar nicht daran, ihn zu verfolgen. So überrascht waren sie.
Es kam ganz selten vor, daß ein Angehöriger die Selbstexekution verweigerte; denn wenn er das tat, so fuhr seine Seele nicht in ein anderes Wesen, sondern starb mit dem Körper. Und Machar war eines der ältesten Mitglieder und Unterführer, ein Mann, an dessen Ehre nie ein anderes Mitglied zu zweifeln gewagt hätte. Seinen Befehl zur Tötung des Radscha und des Prinzen
konnte man einen groben Verstoß gegen die Thaggesetze nennen. Aber seine Ehre berührte dieses Verbrechen nicht, selbst dann nicht, wenn es todeswürdig war. Pantscha wandte sich langsam um. Sein Blick wanderte von einem zum anderen. »Wer wird Bhowanee rächen?« fragte er.
»Ich!« Es stand der Mann auf, der in der vergangenen Nacht den vergifteten Pfeil in den Kopf von Sadharans Puppe geschossen hatte. Ein Thag tötete meist mit der Schlinge. Wenn das aber nicht möglich war, so mußte er die Verletzung des Gebotes auf irgendeine Weise wieder gutmachen.
»Du tötest ihn mit dem Pfeil. Nicht mit der Schlinge. Die Schlinge darf seinen unreinen Hals nicht berühren. Kannst du auch mit der Scheibe umgehen?«
»Ja, Meister, Erhabener, ich bin ein Sikh.«
»Gut. Geh jetzt. Und laß mich nicht zu lange warten.«
Machar stürzte in seine Bambushütte. Dort fand er die stumpf vor sich hinbrütende Krima. »Es ist alles mißlungen«, rief er. »Hast du schon mit deinem Verlobten gesprochen?« Krima winkte ab.
»Er wird nie mein Verlobter werden. Er war wütend und stieß mich von sich. Der Radscha lebt, und Tscham lebt. Dein Krieger hatte auch kein Glück. Wo warst du so lange?«
»Ich weiß es nicht. Ich war gefangen. Die ganze Nacht und den ganzen Tag über lag ich wie ein Paket verschnürt mit verbundenen Augen und verstopftem Mund irgendwo auf hartem Boden.
Und auf mir saß, wie auf einem Kissen, eine ungeheuer schwere Gestalt.«
Sie sah ihn ungläubig an.
»Und du konntest nicht herausfinden, wer dieser Mann war?« »Nein. Er sagte einmal etwas, was ich nicht verstand.« »Seit wann verstehst du kein Englisch?«
»Es schien nicht die Sprache der Faringhi zu sein. Doch ich weiß es nicht genau.« Sie sprang auf — mit blitzenden Augen.
»Aber ich weiß — ich weiß alles!« Haß war in ihrer Stimme. »Fox hat mir nur etwas vorgespielt. Er war der Mann, der dich gefangennahm und dich dann als Stuhl benutzte. Ihn reute sicherlich der Vertrag. Er muß es gewesen sein. Er war der einzige, der außer uns von den Einzelheiten des Plans wußte. Ja, er war es bestimmt. Er spricht zuweilen in englischen Worten, die ich auch nicht verstehe.«
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