Ojo trat zurück in die Mitte des Zimmers. Unschlüssigkeit stand in seinem Gesicht. Hatte nicht der Señor Doktor gesagt, daß man sich hier in einem zivilisierten Land befände, in dem man nicht einfach zum Gewehr greifen durfte, wenn einem etwas nicht paßte? Was sollte er tun?
Sollte er sich gefangengeben?
Mit kurzem Entschluß trat er zum Fenster, schüttete das Pulver von den Pfannen der sechs Läufe, nahm die Kugeln wieder heraus und packte die Villaverdische Muskete beim Lauf. In diesem Moment öffnete sich die Tür, und Eberstein trat mit seiner Abteilung herein.
Die Soldaten gingen auf Ojo zu, der in der Mitte des Zimmers auf die Büchse gestützt stand.
»Keinen Schritt weiter«, sagte Ojo auf spanisch.
»Keine Widerrede«, entgegnete Eberstein scharf. Dann befahl er seinen Soldaten:
»Packt diesen Lumpen!«
Die Soldaten warfen sich auf Ojo. Aber der wich einen Schritt zurück, riß die Flinte über den Kopf und ließ den Kolben über den Köpfen der Angreifer wirbeln.
»Zurück!« schrie er noch einmal.
Aber sie verstanden ihn nicht und Eberstein hetzte :
»Auf ihn, Leute!«
Da krachte der Kolben der Büchse auf den Kopf des ersten nieder. Ojo tobte wie ein Rasender.
Er schlug blindlings um sich. Blut spritzte aus den Platzwunden. Niemand vermochte gegen diesen riesenstarken Kerl etwas auszurichten. Eberstein sprang schnell aus dem Zimmer und befahl Verstärkung herbei.
Es dauerte nur verhältnismäßig kurze Zeit, bis sich fast das ganze Détachement in dem Raum befand.
Aber niemand war den fürchterlichen Hieben Ojos gewachsen. Da zog Eberstein die Pistole, zielte und schoß.
Ojo sah ihn erstaunt an, ließ langsam das Gewehr sinken und stürzte zu Boden.
Erschrocken sahen die Reiter auf den so plötzlich gefällten Riesen. Sie waren sehr still. Den jungen Leutnant, dem das Détachement unterstellt war, würgte es in der Kehle. Der Blick, mit dem er Eberstein von der Seite ansah, drückte deutlich aus, was er in diesem Moment von seinem Kommandeur dachte.
Aber Eberstein sah nur rot.
»Hinunter und aufgesessen!« brüllte er. »Da ist noch einer, den wir fangen müssen.«
62
Michel Baum war in Begleitung seines Vaters gerade in die Wohnung der Ecks zurückgekommen, als das Dienstmädchen ins Zimmer trat und meldete, daß draußen ein junger Mann sei, der dringend Herrn Doktor Baum zu sprechen wünschte.
Michel runzelte die Stirn, und obwohl ihm diese Unterbrechung unwillkommen war, erhob er sich und ging hinaus.
»Jehu? Ihr? - Was gibt es?«
»Eberstein —« keuchte Jehu. Der schnelle Lauf raubte ihm den Atem. »Eberstein und seine Dragoner — beim Krug — Euer Freund hat ein Gewehr aus dem Gepäck genommen. — Er steht am Fenster.«
Michel erbleichte.
»Kommt!« rief er und stürmte davon.
In schnellem Lauf legte er die Strecke zwischen der Eckschen Wohnung und dem Kasernengelände in kürzester Zeit zurück.
Jehu fiel bald ab. Er konnte nicht folgen.
Die Posten, die Michel heute morgen in Begleitung des Regimentskommandeurs gesehen hatten, ließen ihn unbeanstandet passieren. Der Pfeifer kümmerte sich nicht um die empörten Blicke, als er durch die Regimentsschreibstube hastete, um in das Zimmer des Obersten zu gelangen. Hier gab es keine Zeit zu verlieren.
Glücklicherweise war Oberst von Köcknitz zugegen.
»Sie, junger Freund? — Weshalb so aufgeregt?«
»Habt Ihr den Befehl gegeben, mich zu verhaften?« fragte Michel.
»Redet Ihr irre, Herr Doktor Baum?«
»Nein ! Wie soll ich verstehen, daß Eberstein mit einem Détachement Dragoner zum Krug geritten ist, in dem sich mein Freund Ojo aufhält?«
Der Oberst war starr.
»Was sagt Ihr da?«
Michel wiederholte rasch, was er von Jehu vernommen hatte.
»Mein Freund ist die deutschen Verhältnisse nicht gewöhnt. Er wird sich zur Wehr setzen. Er läßt sich nicht fangen. Er wird ein Blutbad unter Euern Soldaten anrichten.«
»Ich kann es nicht fassen!« rief Köcknitz. Mit großen Schritten eilte er an Michel vorbei und rief dem draußen wartenden Adjutanten zu:
»Sofort Alarm geben, Rittmeister. In drei Minuten brauche ich die zweite Abteilung.«
»Hoffentlich kommen wir nicht zu spät«, sagte Michel düster.
»Er ist wahnsinnig«, murmelte der Oberst. »Ich wollte ihm noch einen einigermaßen guten Abgang verschaffen; aber sein Haß gegen Euch muß zu groß sein, größer als seine Vernunft.«
»Ich weiß nicht was ich tue, wenn meinem Freund Ojo etwas passiert«, antwortete Michel grimmig. »Ich werdediesen Lumpen in Stücke zerreißen, wenn er ihm etwas angetan hat.«
Der Kommandeur der zweiten Abteilung trat ein und meldete, daß angetreten war.
»Jagt sofort zum Krug, Major von Hauenthal, und verhaftet den Grafen Eberstein. Aber schnell.«
Major von Hauenthal fiel zwar aus allen Wolken, folgte aber, da er sah, daß der Oberst keine Anstalten machte, seinen Befehl zu begründen, dem Kommando.
»Ihr braucht nur eine Eskadron mitzunehmen«, rief der Oberst ihm noch nach. »Stürmt nicht mit der ganzen Abteilung durch die Stadt. Das würde zuviel Aufsehen erregen. Aber ich will, daß Ihr selbst dabei seid. Bringt den Grafen Eberstein her zu mir.«
Die Eskadron mit dem Major an der Spitze setzte sich in Bewegung.
Der Major befahl Galopp.
Es währte nur ein paar Minuten, dann kam man in die Nähe des Kruges. Major von Hauenthal hörte gerade, wie Eberstein »Aufsitzen!« kommandierte.
Im Galopp preschte er mit seinen Leuten heran und verhielt direkt vor dem Grafen sein Pferd.
»Guten Morgen, Hauenthal«, sagte Eberstein ruhig, so, als sei nichts geschehen.
Hauenthal ließ sich auf kein Gespräch ein, sondern sagte kalt:
»Ich bitte um Euern Degen, Major von Eberstein.«
»Seid Ihr des Teufels?« fragte Eberstein.
»Es tut mir leid, aber ich habe den Befehl vom Oberst, Euch zu verhaften.«
Eberstein zuckte die Schultern. Dann bestieg er gleichgültig sein Pferd und sagte :
»Ich folge Euch selbstverständlich. Aber laßt mir den Degen. Ich möchte nicht ohne ihn durch die Stadt reiten.«
Hauenthal hatte für diesen Wunsch des bisherigen Kameraden Verständnis und nickte.
Der junge Leutnant und die übriggebliebenen, nicht verwundeten Reiter des Détachements wußten nicht, wie ihnen geschah. Sie waren fassungslos, als sie hörten, daß Eberstein sie benutzt hatte, um eine persönliche Rache auszutragen. Eberstein erzählte das dem Major, der ihn verhaftet hatte, so laut und so offen, daß es alle hören konnten.
63
Oberst Graf von Köcknitz und Michel Baum standen auf dem Exerzierplatz, als die alarmierte Schwadron Eberstein und sein Détachement zurückbrachte.
»Sofort her zu mir«, rief der Oberst scharf.
Eberstein stieg nachlässig von seinem Gaul, schlenderte auf den Oberst zu, nahm seinen Dreispitz nicht ab, sondern baute sich lässig vor seinem Vorgesetzten auf.
»Seid Ihr verrückt geworden?« fuhr ihn der Oberst an.
»Vielleicht«, murmelte Eberstein; sein haßerfüllter Blick traf Michel, der neben dem Oberst stand.
»Euch ist nicht zu helfen«, sagte von Köcknitz. »Gebt mir Euern Degen. Ihr seid verhaftet.«
Eberstein grinste.
»Und wenn schon«, sagte er in fast gemütlichem Ton. »Was schert es mich?«
Der Oberst war starr vor Erstaunen über diese Respektlosigkeit. Die Offiziere, die in der Nähe standen, blickten erschrocken zu Boden. Eberstein schnallte den Degen ab und tat, als wolle er ihn dem Obersten überreichen. Im gleichen Moment aber riß er ihn aus der Scheide und schlug nach Michel, der dem Hieb jedoch geschickt auswich.
Eberstein ließ Scheide und Degen fallen, wandte sich plötzlich um, stand mit einem Satz neben seinem Pferd, sprang auf und jagte in wilder Karriere davon.
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