Zum erstenmal seit langer Zeit pfiff Michel wieder fröhlich vor sich hin. Die Leute, an denen er vorbeiging, blieben stehen und wandten sich nach ihm um.
»Hallo, Vater Eck«, grüßte Michel, als er das Ecksche Haus betreten hatte.
»Freut mich, mein Junge, dich zu sehen. Ich habe gute Nachricht für dich. Der Pfarrer hat mir zugesichert, daß er euch in spätestens vier Tagen in aller Stille trauen wird. Früher, meinte er, ginge es nicht.«
»Es ist keine Eile mehr nötig«, rief Michel fröhlich. »Die Schwierigkeiten sind so gut wie beigelegt. Man wird michnicht mehr als Deserteur verjagen. Und ich glaube, man wird auch Eberstein endlich das Maul stopfen.«
»Erzähle«, sagte Vater Eck neugierig. »Wie hast du das gemacht?«
»Ich habe einen Oberst getroffen, der ein guter Mensch war. Und ich habe viel erlebt seit gestern. Doch ich nehme an, daß auch Charlotte und Vater es hören wollen. Ich werde die beiden herüberholen. Dann will ich euch berichten, wie alles kam.«
»Michel«, rief jemand freudig bewegt von der Tür her.
Er wandte sich um, und Charlotte flog ihm an die Brust.
Der Alte räusperte sich und drehte sich um. Es verstieß gegen seine Vorstellung von Wohlerzogensein, daß sich die Jungen so offen vor den Augen der Eltern in die Arme fielen. Zu seiner Zeit hatte es das nicht gegeben.
Andererseits war es ihm klar, daß ein Mann, der die ganze Welt bereist hatte, anders denken mußte als er, der nie sehr weit über Kassel hinausgekommen war.
»Huuuuch!« klang es in Michels und Charlottes Rücken.
Auch Frau Eck war eingetreten. Diesmal vermied sie es mit Anstrengung, in Ohnmacht zu fallen.
»Schämst du dich nicht, Charlotte? Ihr seid noch nicht verheiratet !«
»Macht Euch nichts draus, Schwiegermama«, lachte Michel, »es kann sich nur noch um Tage handeln.«
Frau Eck war konsterniert. Sie fand es höchst unschicklich, daß ihre Tochter so wenig Hemmungen zeigte. Es war aber nicht nur das; denn in ihrem Innern saß ein geheimer Stachel, der ständig bohrte. Sie wollte es noch nicht wahrhaben, daß Charlotte tatsächlich diesen, wie sie ihn nannte, Luftikus und Herumtreiber heiratete. Frau Eck hätte ihre halbe Seligkeit dafür gegeben, wenn aus ihrer Tochter eine Gräfin geworden wäre.
Und nun kam dieser Michel und wollte sie gar gleich mit nach Amerika entführen.
Der alte Eck hatte sie zwar davon zu überzeugen versucht, daß er den jungen Baum für den rechten Mann halte, denn dessen Diamanten hatten ihm gewaltig imponiert. Aber Frau Eck wollte davon nichts hören. Sie glaubte Michel seinen Reichtum nicht. Sie glaubte überhaupt nichts von dem was er erzählt hatte. Es ging über ihren Horizont, daß ein Mann, der in der Straße nebenan geboren war, Indien, Afrika und die Ozeane bereist hatte. Sie hielt das alles für Aufschneiderei.
Da ihr jedoch nichts anderes übrigblieb, als »ja« zu sagen, tat sie es mit süßsaurer Miene, zumal sie genau wußte, daß die selbständige Charlotte sich ohnehin nicht um ihren Einspruch kümmern würde.
Charlotte war stets ein eigenwilliges, ja, eigensinniges Mädchen gewesen. Sie war anders als die anderen Mädchen ihres Alters. Sie hatte eigene Gedanken und eigene Ideen, die sie pflegte und förderte. Sie ließ sich keine fremde Meinung aufzwingen, sondern bildete sich die ihre lieber selbst. Und schließlich und endlich war sie mit achtundzwanzig Jahren kein kleines Kind mehr, das man schulmeistern konnte.
»Ich gehe hinüber, um den Vater zu holen«, sagte Michel. »Wir wollen heute ein wenig feiern.
Ich habe allen Grund dazu.«
61
Es war schon elf Uhr, als Jehu Rachmann sich zum Ausgehen fertiggemacht hatte. Er verließ den Krug, um die Hirschfelders aufzusuchen, die heute ihren schwersten Tag hatten; denn am frühen Nachmittag sollte Abraham Hirschfelder beigesetzt werden.
Jehu war noch nicht weit gekommen, als er von der Stadt her ein Détachement Dragoner anreiten sah.
Das war ungewöhnlich. Denn in diese Gegend kamen die Dragoner nur nach Dienstschluß, wenn sie durstig waren und sich zerstreuen wollten.
Sie waren etwa auf fünfzig Schritt herangekommen. Da erkannte Jehu Eberstein. Blitzartig erfaßte er, daß dieses Aufgebot nur Michel gelten konnte. So wandte er sich um und jagte in großen Sprüngen die Treppe empor und hinein in Michels und Ojos Zimmer.
Ojo lag lang auf dem Bett; aber er schlief nicht.
»Wo ist der Herr Doktor?« rief Jehu.
Ojo verstand nur Doktor und zuckte die Schultern.
Jehu trat an das Bett und zog Ojo am Brustlatz empor. Kopfschüttelnd folgte der Spanier seinen Bemühungen.
Der Musiker trat hastig ans Fenster, nahm die Gardine etwas zur Seite und wies mit dem Finger hinaus auf die Straße.
Ojos Blick fiel auf die anreitenden Dragoner, und auch er erkannte Eberstein. Es war klar, daß er denselben Gedanken hatte wie Jehu.
Aha, dachte er, es scheint also doch nicht ganz so zu sein, wie der Señor Doktor gesagt hatte. Sie wollen doch noch was von uns. Dieser verdammte Eberstein gibt keine Ruhe. Na, mich sollen sie nicht kriegen. Ich werde ihnen die Suppe gehörig versalzen.
Er wandte sich zu jener Stelle, wo bis gestern das Gepäck gelegen hatte. Es war nicht da. Da fiel ihm ein, daß Jehu es in Verwahrung genommen hatte. Ohne ein Wort zu sagen, verließ Ojo das Zimmer und ging in Jehus Stube. Dort machte er sich an einem großen Seesack zu schaffen, und bald darauf hielt er Michels Villaverdische Muskete in der Hand. Mit geübten Fingern lud er sie.
Dann ging er in sein Zimmer zurück.
Jehu erbleichte bis in die Haarwurzeln, als er den spanischen Riesen mit dem Gewehr in der Hand sah. Ojo deutete auf die Tür und radebrechte auf französisch:
»Du rausgehen. Hier unsicher. Hier gefährlich.«
Jehu fragte entsetzt:
»Wollt Ihr vielleicht auf sie schießen?«
»Oui«, nickte Ojo und strahlte dabei übers ganze Gesicht, als gälte es, einen Krug guten Weins zu leeren.
»Non, non, das dürft Ihr nicht!« Jehu mühte sich, ihm die Flinte zu entreißen. Aber dieses Bemühen blieb vergeblich; denn der schmächtige Pianist konnte sie auch keinen Zoll breit aus Ojos Händen entfernen.
»Oui«, sagte Ojo wieder. »Ich schießen. Du raus. Hier gefährlich.«
»Wo ist der Herr Doktor?« fragte Jehu hastig.
»Oui«, antwortete Ojo, »bei seiner Braut.«
Jehu stürmte aus dem Zimmer und benutzte einen Hinterausgang des Krugs.
Er mußte Michel warnen. Hier konnte er doch nichts ausrichten.
Ojo sah, wie Eberstein den Säbel aus der Scheide zog und damit erst nach rechts und dann nach links winkte.Die Reiter schwärmten zu einer Reihe aus und hatten binnen kurzem das ganze Haus umstellt.
Mit dem Leutnant und zwei Sergeanten an seiner Seite ging Eberstein mit gezogenem Degen auf den Eingang zu.
Da riß Ojo das Fenster auf und schrie:
»Wer mir zu nahe kommt, der kriegt eine Ladung Blei in den Bauch.« Er hatte spanisch gesprochen, und Eberstein verstand ihn nicht.
Aber er sah die auf sich gerichtete Flinte und hielt inne.
Drohend hob er den Säbel gegen Ojo. Der lachte, legte die Muskete an, zielte und drückte ab.
Den Knall hatte man im ganzen Haus gehört. Auf der Treppe näherten sich Schritte. Die Tür öffnete sich, und der Krugwirt mit seinem Knecht und seiner Magd erschienen in ihrem Rahmen.
Sie erhoben ein großes Geschrei, als sie Ojo am Fenster stehen sahen. Als dieser sich jedoch mit dem Gewehr in der Hand zu ihnen umdrehte, ergriffen sie entsetzt die Flucht.
Eberstein hatte sich mittlerweile wieder seines Degens bemächtigt, dem jetzt allerdings die Spitze fehlte.
Er gab ein paar scharfe Kommandos und Ojo sah, wie die Soldaten den Kreis um das Haus enger schlössen. Dann drang eine Abteilung, die die Waffen blank gezogen hatte, durch die Tür in das Haus ein.
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