Greg Moody
TÖDLICHE TOUR
Übersetzung:
Sebastian Moll
Delius Klasing
EDITION MOBY DICK
Gewidmet Becky, Devon und Brynn, deren Verständnis und Unterstützung (und die Fähigkeit, leise im Nebenzimmer zu spielen) dieses Buch erst möglich machten, sowie John Stenner.
Copyright © 1995 Greg Moody
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel „Two Wheels“ beim Verlag VeloPress in Boulder/Colorado, USA.
1. Auflage 2010
ISBN 978-3-7688-8300-9
Die Rechte für die deutsche Ausgabe liegen beim Moby Dick Verlag, Kiel
Die Printausgabe dieses Werkes wurde mit der
ISBN 978-3-89595-148-0 herausgegeben.
Übersetzung: Sebastian Moll
Titelmotiv: Matt Brownson
Datenkonvertierung E-Book:
Kreutzfeldt digital, Hamburg
www.kreutzfeldt.de
Alle Rechte vorbehalten! Ohne ausdrückliche Erlaubnis des Verlages darf das Werk, auch Teile daraus, nicht vervielfältigt oder an Dritte weitergegeben werden.
www.delius-klasing.de
Inhalt
61 König der Landstraße
162 Willkommen in Sinnlos
353 Haven im Sinn
544 Der Ritt an der Wand
745 Ein Stück meines Herzens
916 Ich liebe meinen Schatz, mein Schatz liebt mich
997 Wider die Macht
1208 Die Dinge werden klarer
1319 J’accuse
15110 Die Rückkehr des Kojoten
17011 Auf nach Süden
18712 Am Boden zerstört
20013 Ein Wochenende auf dem Land
21914 Ein Wort: Plastiksprengstoff
23315 Morgenröte
24916 Flucht nach vorne
26717 Ein Sonntag in der Hölle
28418 Roubaix
29919 Zu spät zum Helden geworden
31220 Endspiel
1
König der Landstraße
Es ist schön, König zu sein, dachte er. Jean-Pierre Colgan stand an einem verregneten Januar-Sonntag am Fenster und ließ seinen Blick über ein atemberaubendes Paris schweifen. Paris war trotz des Regens atemberaubend, denn es gehörte ihm.
Alles was die Stadt zu bieten hatte – Frauen, Wein, die besten Tische in den besten Restaurants – konnte er sich einfach nehmen, denn er war mit nur 27 Jahren Weltmeister im Radfahren; er war französischer Meister und er war der erste Franzose seit fast einem Jahrzehnt, der eine echte Chance hatte, die Rundfahrt durch sein Land zu gewinnen; der erste Franzose seit 30 Jahren, der das Peloton, die Presse und die Fans fest im Griff hatte.
In seiner eigenen Vorstellung war er bereits eine Legende.
Wer war schon Fignon? Wer war schon Hinault? Wer war schon Leblanc? Wer waren sie schon, sie, und ihre schwachsinnigen Anhänger?
»Tifosi«, nannte er sie abfällig und lachte dabei.
Jean-Pierre Colgan hatte den italienischen Ausdruck immer gemocht. Er machte aus den schreienden zappelnden Fans am Straßenrand, gefangen in ihrer Heldenverehrung und ihrem Chauvinismus, einen Schwarm von Kakerlaken, die nur darauf warteten von seinem Heldentum zertreten zu werden.
Er war nicht einfach ein König der Landstraße. Er war der König der Landstraße und er war sich dessen voll und ganz bewußt. Es war seine Zeit auf der Bühne dieser Welt, seine Zeit im Rampenlicht, und er würde sie voll auskosten. Man machte den Gehweg frei für ihn, Kellner behandelten ihn ehrfürchtig und die Welt lag ihm zu Füßen – zumindest der Ausschnitt der Welt, in dem Teufelskerle auf zwei Rädern etwas bedeuteten.
Colgan rieb sich die Augen und erwischte sich dabei, wie er an Amerika dachte. Sein Ausflug nach Disney World war ein Desaster gewesen. Dort hatte ihn niemand erkannt. Keiner hatte um sein Autogramm gebeten. Goofy war mit einer Gruppe alter Damen aus Ohio so beschäftigt gewesen, dass er keine Zeit hatte, sich mit ihm fotografieren zu lassen. Und er hatte einen horrenden Eintrittspreis bezahlen müssen. Mon dieu! Er hatte schon seit Jahren nirgends mehr Eintritt bezahlt.
Er hatte verdammt noch mal Schlange stehen müssen. Er hatte am Space Mountain angestanden und sich dann nach der Hälfte der Fahrt übergeben. Das war nicht gerade der Stil eines Champions. Wäre er besser behandelt worden, dachte er, hätte er sein Mittagessen nicht an einen Mars aus Pappmaschee geklatscht.
Er hätte ins Euro-Disney fahren sollen.
Nein. Er würde keine n ihrer blöden Parks mehr besuchen. Soll Euro-Disney doch Pleite gehen. Er grinste. Seine amerikanischen Mannschaftskollegen begannen auf ihn abzufärben.
Sie waren miserable Fahrer, fand Colgan, aber sie kannten sich mit Geschäften aus und hatten keine Angst davor, den Bossen die Stirn zu bieten. Sie hatten die gesamte Branche aus dem Würgegriff der Team-Besitzer befreit. Seither wurde ein Champion auch wie ein Champion bezahlt – und konnte mit den richtigen Sponsorenverträgen sogar auf eine hübsche Rente hoffen.
Aber als Fahrer... pffft. LeMond ja, vielleicht Armstrong. Und eine Hand voll anderer. Hampsten. Aber so viele, die kaum mit dem Feld mithalten konnten.
Und die Fans erst. Einmal war Colgan in den USA gefahren, als er zwanzig war, irgendwo in Colorado. Das Rennen wurde von einer Brauerei gesponsort, eigentlich kein schlechter Wettkampf. Mangels ernsthafter Gegner war es für Colgan mehr ein Herbst-Training gewesen, aber es hatte niemand zugeschaut. Colgan hatte das Gefühl, dass selbst die »großen Massen« kleiner waren als die in Frankreich. Die Amerikaner begriffen es einfach nicht. Und sie würden es nie begreifen. Sie würden nie begreifen, welche Gefahr es bedeutete, welche Kraft man brauchte, welchen Stil und vor allem welches Verlangen, ein Champion zu sein. Nicht einmal ihre eigenen Champions begriffen das. Amerikanische Champions waren gepolsterte Fleischklöße. Wie viel Finesse braucht man schon dazu, sich auf einem mit Linien markierten Rasen ineinander zu verkeilen?
Amerikaner.
Colgan sah nach unten und erblickte seine Nachbarin Yvette auf ihrem Balkon. Sie schaute nach oben und ihre Blicke trafen sich. Ihrer schien zu fragen, warum er letzte Nacht verschwunden war; es hatte sich doch alles gut angelassen.
Er zuckte mit den Schultern. C’est la vie. Ich schlafe gerne in meinem eigenen Bett, Chéri.
Colgan drehte sich um und lief barfuß durch seine Küche, die größte Küche, die er je in einer Pariser Wohnung gesehen hatte. Aber, sagte er sich, der Wand, dem Sofa, niemand bestimmtem, dies ist ja auch nicht die Wohnung von irgendwem.
»Es ist schön, König zu sein.«
Er liebte große Küchen. Er liebte Lebensmittel. Jean-Pierre schnitt zwei Scheiben von einem frischen Laib Weißbrot ab und schob sie in seine neueste Errungenschaft: einen amerikanischen Toaster. Ausgesprochen hübsch. Voll verchromt und sehr Hightech. Jegliche Technologie, die je zum Toasten von Brot erfunden worden war, steckte darin. Und das war für ihn gerade gut genug.
Er schenkte sich noch eine Tasse Kaffee ein. Und noch ein Glas Saft. Dann setzte er sich mit der neuesten Ausgabe von L ’Equipe an den Küchentisch. Das Blatt wird vielleicht doch überschätzt, dachte er, als er die Sporttageszeitung überflog. Sein Name tauchte erstmals auf Seite drei auf. Irgendetwas lief hier falsch. Er würde mit Martin über sein Marketing sprechen müssen.
Marketing. Noch so eine amerikanische Erfindung. Sie müssten nur noch fahren können.
Das Gefühl, dass irgendetwas in der Wohnung, außerhalb seiner unmittelbaren Wahrnehmung, nicht stimmte, traf ihn nicht direkt. Es beschlich ihn so, wie eine leise tickende Uhr einen Traum stört. Nichts Plötzliches. Irgendetwas stimmte einfach nicht ganz.
Er lehnte sich zurück und schaute sich im Raum um. Irgendetwas. Nur wo? Wo?... Der Toaster, da, der Toaster. Eine dünne weiße Rauchschwade stieg aus dem Gerät. Colgan ließ seine Zeitung fallen und eilte hinüber zur Arbeitsplatte.
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