Zu jedem Sport gehört eine Liebe, die an Besessenheit grenzt. Hingabe bis zum Fanatismus. Eine Konzentration, die alle Sinne in Anspruch nimmt. Ein Feuer, das tief und heiß und lange brennt. Du weißt um dein Talent, um deine Fähigkeiten, um den Preis, der 200 Meter weiter hinter der Linie auf dich wartet und du überwindest den Schmerz, die Hitze, den Mangel an Leidenschaft, die Langeweile und die Sinnlosigkeit und du überwindest Zeit und Raum und setzt dich vor die Meute – genau zu dem Zeitpunkt, zu dem du vor der Meute sein musst.
Faszinierend, diese Männer, die in ihre Maschinen verliebt sind und für sie so viel Schmerz erdulden. Männer, die Fahrräder lieben.

»Inspektor«.
Inspektor Luc Godot von der Pariser Polizei zog den Kragen seines zerlumpten und verwitterten Trenchcoats dicht um seinen Hals. In der Wohnung wehte eine bitterkalte Brise, zumal sie keine nennenswerten Wände mehr hatte.
»Passen Sie auf, wo Sie hintreten, Inspektor. Teile des Bodens sind brüchig oder fehlen ganz. Außerdem ist dies ein noch nicht gesicherter Tatort.«
Godot schaute den jungen Spurensicherungsfachmann durch seine schweren, rot umrandeten Augen an. Jedes Jahr, dachte er. Sie werden jedes Jahr schlechter. Und jünger. Dieses Kind kann höchstens zehn sein und er ist der älteste von den Dreien. Wo war Claude? Claude sollte der Mann für einen Fall dieser Größenordnung sein und nicht irgendein blasierter, altkluger Junger Pionier.
Godot schlurfte durch die Trümmer, die einst die Wohnung von Jean-Pierre Colgan gewesen waren. Drei Techniker waren an einer Außenwand damit beschäftigt, sorgfältig eine Gasleitung zu untersuchen, die aus ihrer Verankerung gerissen und zu einem Knoten verdreht worden war. Rundherum waren Schmauchspuren an der Wand.
Godot zündete sich eine Zigarre an. Kubanisch. Sie half ihm beim Denken.
Der Techniker, der ihm schon beim Reinkommen einen Vortrag gehalten hatte, sprang auf und schrie Godot erregt an: »Hier wird nicht geraucht, Inspektor! Hier hat eine Gasexplosion stattgefunden und außerdem ist dies ein Tatort. Sie bringen uns alle in Gefahr und sie verfälschen die Beweise!«
Godot starrte einfach nur ins Leere. Er holte tief Luft und stieß einen schweren Seufzer aus. Wie lange noch bis zur Pensionierung? Er ignorierte das schmächtige Wiesel mit seinem weißen Labormantel und wandte sich der anderen Seite der Wohnung zu, wo vermutlich die Küche gewesen war. Durch die Rauchschwaden seiner Zigarre genoss er den wunderbaren Blick über Paris, ein Blick, der bis vor wenigen Tagen von roten Ziegelsteinen verstellt gewesen war. Ich liebe Paris im Frühling, dachte er. Schade, dass es noch Winter ist.
Die Techniker schnatterten auf der anderen Seite des Raumes die Gasleitung an. Godot hatte ihren ersten Bericht über die Explosion und den Tod von Jean-Pierre Colgan schon gelesen. Er war nicht schlüssig. Ihm jedenfalls nicht. Er überprüfte sanft den Boden, der wie eine harte Matratze leicht nachgab, und trat vorsichtig auf eine freigelegte Strebe neben der Wand von Colgans Küche. Vor zwei Tagen muss hier eine Arbeitsfläche gestanden haben, dachte er. Auf den Überresten des Bodens konnte er einen Umriss aus Holz- und Kachelresten erkennen.
Dann sah er auf. Godot griff nach einem Stück Gips von der Decke, das an einem Draht direkt über seinem Kopf baumelte. Der hölzerne Messergriff war bis auf die zwei letzten Zentimeter in der Decke versenkt. Er nahm ihn vorsichtig in die Hand und zog. Der Gips löste sich zusammen mit dem Messer. Godot wischte den Staub und die Brösel vom Ärmel seines Mantels, dann klopfte er mit dem Messer gegen einen freigelegten Wandhaken, um die Klinge freizulegen. Sie war verdreht und verbrannt, die Spitze war ausgefranst. Er sah sich um. Senkrecht nach oben... dieses Buttermesser war senkrecht nach oben geflogen.
Godot drehte sich auf der wackeligen Stelle, an der er stand, langsam um. Der Weg, den die Zerstörung sich durch die Wohnung gebahnt hatte, ging direkt von ihm aus, von der Stelle, an der er stand.
Godot lächelte. Das war keine Gasexplosion.

Will hasste dieses Fahrrad. Er hasste es, da zu sein, wo er jetzt war, und er hasste es, das zu tun, was er gerade tat. Er würde jetzt gerne mit dem Schreiber ein Wörtchen wechseln, der sich in TOUR über die Poesie des Rennradfahrens ausgelassen hatte.
»Heb erst einmal deinen fetten Arsch vom Sofa hoch und setz ihn für sechs Stunden auf den Sattel. Dann reden wir weiter.«
Er hatte schon einen Plattfuß gehabt. Er hatte den Schlauch gewechselt und sich in einem Radgeschäft unterwegs Flickzeug und eine Trinkflasche geholt. Eine Notwendigkeit, die sich als Peinlichkeit entpuppt hatte.
Ein älterer weißhaariger Mann stand hinter der Theke, dessen Körper verriet, dass er den Sport in seiner Jugend kennen gelernt, die Beziehung jedoch Jahre vor dem Zusammentreffen mit Will beendet hatte.
»Ich sehe, Monsieur, dass Sie ein Haven-Trikot tragen. Die Mannschaft ist vor etwa 45 Minuten hier vorbeigekommen; Sie haben sie gerade verpasst.«
»Die werde ich noch oft genug sehen. Ich brauche, lassen Sie mich meinen Geldbeutel befragen, einen Schlauch, Flickzeug und ein paar Haven Power Bars.«
»Sie sollten sich besser auf ihre Ausfahrten vorbereiten.«
»Ich musste etwas überstürzt losfahren. Sie sagten, das Team sei seit 45 Minuten durch?«
»45 Minuten, vielleicht eine Stunde. Sie werden sie niemals einholen. Die haben richtig Gas gegeben.«
Er trug seinen Einkauf raus und lud ihn auf. Er würde die Fahrt beenden. Außerhalb der Karenzzeit, aber er würde ankommen.
»Tragen Sie das Trikot zu Ehren von Colgan?«, fragte der Ladenbesitzer.
»In gewissem Sinne trage ich es seinetwegen, ja. Ich habe nach seinem Tod die freie Stelle im Team angenommen.«
»Sie fahren bei Haven? Sie glauben, mir weismachen zu können, dass Sie ein Haven-Fahrer sind? 45 Minuten hinter der Mannschaft? In einem verwanzten Trikot von vor drei Jahren? Ohne Teamwagen alleine auf der Straße?« Plötzlich wurde sich der Ladenbesitzer des Blicks in Ross’ Augen bewusst.
»Ja, mein Freund, mais oui, Sie ersetzen Colgan. Jetzt erinnere ich mich. Ich habe in L’Equipe von Ihnen gelesen. Ja, natürlich. Bonne chance – Sie müssen jetzt fliegen. Sie haben einen großen Rückstand wettzumachen. Aber das sollte Ihnen nicht schwer fallen, Sie sind ja ein Champion, non?«
Er schob Will an und beobachtete, wie er die Hauptstraße des Dorfes hinunterfuhr. Sobald Ross aus dem Blickfeld verschwunden war, rannte Jean Jablom in das Hinterzimmer seines Geschäfts und wählte eine Telefonnummer, die er stets in seinem Herzen trug. Innerhalb von fünf Minuten hatte er alle seine Wetten für die Saison geändert. Er hatte immer auf Haven gesetzt. Dank Haven hatte er eine Menge Geld verdient. Er glaubte an Treue.
Aber es gab keinen Grund, deshalb Dummheiten zu machen. Will kämpfte, die Nase dicht über dem Lenker, gegen den Wind. Er hatte zu Beginn ein gutes Tempo aufgenommen und beibehalten, aber jetzt, da die Brise sich in einen satten Gegenwind verwandelte und das Terrain schwieriger wurde, musste er sich ganz darauf konzentrieren, überhaupt im Tritt zu bleiben. Wenige Kilometer zuvor hatte er auf die Karte geschaut und eine kleine Landwirtschaftsstraße ausgemacht. Es war eine Abkürzung, um auf die Straße zurück nach Senlis zu gelangen. Er könnte sie nehmen, etwa zwei Stunden gutmachen, vor der Mannschaft rauskommen, sie vorbeifahren lassen und dann locker ausrollen. So würde er vielleicht 15 bis 20 Minuten hinter ihnen am Velodrom ankommen. Deeds würde sich in die Hosen machen. Die ganze Mannschaft würde sich in die Hosen machen. So könnte er sich Respekt verschaffen, bis zur nächsten Ausfahrt, am nächsten Tag, wenn er nach zwanzig Kilometern abreißen lassen müsste. Vielleicht würden sie denken, er habe sich am Vortag verausgabt, also würden sie verständnisvoll sein. Vielleicht auch nicht. Und selbst wenn, dann nur so lange, bis sie herausbekämen, dass er es einfach nicht draufhatte und dass kein Training der Welt etwas daran ändern konnte.
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