Auch Jehu packte die Unruhe. Es sah fast so aus, als sei es Eberstein gelungen, sich Michel Baums zu bemächtigen.
Um Mitternacht brachte der Wirt den zweiten Krug zu Ojo. Die Aufregung machte ihn durstig.
Die Becher waren ihm zu klein. So setzte er denn das schwere Tongefäß an die Lippen und leerte es zum Erstaunen des Krugwirts zur Hälfte in einem Zug.
Um halb ein Uhr saß nur noch ein einzelner verspäteter Gast in der Stube. Der aber gehörte nicht zur Stammkundschaft, und so hatte der Wirt ein Einsehen und entließ den Musikus.
Als Ojo auch den zweiten Krug geleert hatte, klappte der Deckel des Cembalos mit hörbarem Krach zu. Jehu setzte sich an den Tisch des Spaniers, und beide gestikulierten wild, obwohl keiner die Zeichen des anderen richtig deutete.
Um eins wurde es Ojo zu bunt. Er hieb mit der Faust auf den Tisch, beglich die Zeche und stand auf.
Der Wirt bekam einen ungeheuren Respekt, als er sah, wie der große Mann, ohne auch nur im geringsten zu schwanken, neben Jehu die Wirtsstube verließ.
Ojo machte keine Anstalten, die Treppe hinauf in sein Zimmer zu gehen. Jehu blieb neben ihm.
In des Spaniers Gehirn arbeitete es schwer. Er suchte nach Worten, nach deutschen Worten, mit denen er sich dem jungen Mann verständlich machen konnte. Endlich fand er ein paar französische Brocken. So machte er denn einen Versuch:
»Du — mir — zeigen — wo prison — Gefängnis.«
Und siehe da, Jehu hatte verstanden. Ein wenig Französisch konnte er auch.
»Voila«, meinte er, »gehen wir.«
Sie wanderten ins Stadtinnere, und auf der anderen Seite wieder hinaus, bis sie in jene Gasse kamen, an der das Wachlokal und die Arrestzellen lagen.
Jehu deutete darauf. Ojo nickte, zum Zeichen, daß er verstanden hatte. Er nahm Jehu beim Arm, führte ihn zu einem Baum, der nicht weit entfernt stand, und stellte den verblüfften jungen Mann dicht an den Stamm, so daß ihn das Licht der Sterne nicht erreichen konnte.
Jehu blieb stehen. Ojo wandte sich dem Eingang des Wachlokals zu und blickte, als er sah, daß dieses ein Fenster hatte, hinein. Auch er fand den Sergeanten am Tisch sitzen und schlafen. Da sah er, wie im Hintergrund des Wachzimmers ein Soldat von einer Pritsche aufstand.
Er gähnte, reckte und streckte sich, trat dann, ohne den Sergeanten zu wecken, an den Tisch, nahm die Kerze zur Hand und verschwand in dem Gang, an dem die Zellen lagen.
Ojo zuckte die Schultern. Was sollte er tun? Sollte er hineingehen? Was würde das nützen?
Niemand würde ihn verstehen. Das einzige, was ihm blühen konnte, war, daß man ihn selbst verhaftete. Eine verteufelte Situation. Ohne sich über das schlüssig zu werden, was er tun wollte, blieb er am Fenster stehen und beobachtete die Soldaten weiter.
Plötzlich sah er, wie derjenige, der soeben im Zellengang verschwunden war, wie der Blitz wieder hervorgeschossen kam und auf den Sergeanten zustürzte, diesen an den Schultern rüttelte und auf ihn einschrie:
Der Sergeant fuhr hoch.
»Was sagst du? Sag das noch mal!«
»Ja, Herr Sergeant, es stimmt. Die Zelle ist leer. Ich wollte austreten gehen, und da mich der Mann interessierte, weil er so laut gepfiffen hat vorher, habe ich durch das Guckfensterchen gesehen. Er ist nicht drin.«
Der Sergeant griff nach seinem Säbel und schnallte ihn um. Dann nahm er einen Schlüssel von dem Brett. Mit dem Soldaten als Lichtträger wandte er sich dem Gang zu, um sich selbst zu überzeugen.
Ein paar Sekunden später stand er wieder im Wachraum. Die anderen Mannschaften, es waren sechs an der Zahl, wurden ebenfalls geweckt.
Ojo, der natürlich nichts verstanden hatte, trat achselzuckend zu Jehu an den Baum. Es hatte den Anschein, als würden die Soldaten nach draußen kommen. Deshalbwollte sich der lange Spanier nicht von ihnen sehen lassen. In diesem Augenblick klangen Schritte aus dem Dunkel. Jehu und Ojo blickten gespannt der sich nähernden Gestalt entgegen.
Als man die Züge des Mannes erkennen konnte, hatte Ojo Mühe, einen drohenden Ausruf zu unterdrücken.
Es war Eberstein. Er mußte viel getrunken haben; denn er schwankte beträchtlich. Der Dreispitz saß schief auf seinem Kopf, der Degen schleifte auf der Erde nach.
Er erreichte das Wachlokal im gleichen Moment, als der Sergeant mit seinen Soldaten aus der Tür stürzte.
Der Sergeant sah Eberstein sofort, riß die Hacken zusammen und meldete:
»Der gefangene Deserteur ist entflohen, Herr Major.«
»Wa - Was?« lallte Eberstein.
»Der Deserteur Baum ist entflohen.«
Jetzt erst begriff Eberstein, was vorgefallen war. Er schrie den Sergeanten an. Er drohte der ganzen Wache mit scharfem Karzer. Er tobte und gröhlte, daß sich auf der anderen Straßenseite ein Fenster öffnete, in dem die weiße Zipfelmütze eines aus dem Schlaf gerissenen Bürgers zum Vorschein kam.
Plötzlich hielt der Graf im Toben inné. Sein vom Alkohol benebelter Geist begann sich zu klären. Blitzartig wurde ihm die Situation klar. Und jäh begriff er, daß die Flucht Michel Baums seine Rettung bedeuten konnte. Er war davon überzeugt, daß man ihn, sollte man ihn überhaupt verfolgen, ohnehin nicht wieder einfangen würde. So hatte sich der Kronzeuge gegen ihn von selbst um diese Zeugenschaft gebracht; denn er konnte ja nicht ahnen, daß Oberst Köcknitz die komische Idee hatte, Vortrag beim Landgrafen über ihn zu halten.
Eberstein faßte schnell zusammen: Baum war weg, war abermals desertiert, war also ein Verbrecher, der sich der Sühne durch Flucht entzogen hatte. Das war ganz klar. Auch Oberst Köcknitz würde nicht anders denken. Und Richard Baum mochte nun getrost aussagen, daß es sein eigener Vetter gewesen war, dem er den Degen gegen Eberstein geliehen hatte. Ein Offizier aber verlieh seinen Degen nicht an einen Unwürdigen, auch wenn dieser Unwürdige sein Vetter war.
Der Sergeant blickte Eberstein erstaunt an, weil dieser aufgehört hatte, zu brüllen. Eberstein merkte noch rechtzeitig, daß ihm der heitere Ausdruck nicht recht zu Gesicht stand, wenigstens in diesen Augenblick nicht. Er meinte barsch:
»Melde Er das Vorkommnis weiter. Gute Nacht.«
Der Sergeant nahm Haltung an, und Eberstein entfernte sich.
Jehu hatte das meiste von dem, was der Sergeant gesagt hatte, verstanden. Michel Baum war also frei. Wo mochte er stecken?
Jetzt war es Jehu, der nach Worten suchte, um das freudige Ereignis Ojo mitzuteilen. Aber soviel Französisch verstand Ojo nun wieder nicht. Außerdem waren seine Gedanken einzig und allein bei Eberstein. Als er sah, wie dieser sich entfernte, hörte er gar nicht mehr auf die Wortfetzen seines Begleiters, sondern pirschte sich im Schatten der anderen Straßenseite hinter ihm her.
Jehu, der nicht wußte, was er sonst tun sollte, folgte ihm.
Als Ojo Eberstein erreicht hatte, machte er nicht viel Federlesens. Er packte ihn einfach beim Kragen, stopfte ihm ein bereit gehaltenes Tuch in den Mund, lud sich den zu Tode erschrockenen Mann auf die Schulter, setzte sichin Dauerlauf und eilte mit der schweren Last dem Krug zu. Jehu keuchte hinter ihm her. Er war so erschrocken, ja entsetzt, daß er in diesem Augenblick kaum fähig war, in der eigenen Muttersprache etwas zu sagen, geschweige denn auf französisch.
Weder der Wirt noch die Magd Maria sahen, wie Ojo mit dem sonderlichen Paket die Treppe emporeilte.
Mit dem Fuß stieß der lange Spanier die Tür auf und taumelte hinein. Eberstein, der sich verzweifelt gewehrt hatte, dem eisenharten Griff Ojos jedoch nicht gewachsen war, hatte das Bewußtsein verloren. Ojo warf ihn auf sein Bett, nahm ein paar Riemen und fesselte ihn.
Jehu stand neben dem Bett und stierte mit weitaufgerissenen Augen auf die ungewöhnliche Szene. Für ihn, einen Untertan des Landgrafen von Hessen-Kassel, war es wohl das Ungewöhnlichste, was er je erlebt hatte. Er zitterte um seine neuen Freunde; denn er konnte sich nicht vorstellen, daß ein solches Verbrechen, die Entführung eines Offiziers, ungesühnt bleiben würde. Und die Strafe würde nicht gering sein. Eberstein, Spekulant, Offizier, Denunziant und Verräter in einer Person, würde schon für ein entsprechendes Urteil sorgen.
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