»Immerzu, immerzu, lieber Freund. Seid einer meiner tüchtigsten Offiziere. Was meint Ihr?«
»Schlage vor, ihn zu hängen.«
»Zu hängen? — Ich bitte Euch, Eberstein! Wir werden doch einen Menschen nicht hängen, weil er vor zehn Jahren mal davongelaufen ist. Wie kommt Ihr auf diese absurde Idee?«
»Denke, es war Desertion vor dem Feinde.«
Der Oberst runzelte die Stirn. Er war in preußischen Diensten groß geworden. Und es war daher nicht zu verwundern, daß er über jemanden, der sich nicht an eine fremde Macht hatte verkaufen lassen wollen und deshalb desertiert war, anders dachte als Eberstein.
»Ach, Unsinn! — Verzeiht, ich bin doch der Meinung, daß wir den Mann laufen lassen sollten.
Wozu so alte Sachen aufwärmen? Weiß nicht, was das Militärstrafgesetzbuch dazu sagt, wenn sich ein Deserteur nach zehn Jahren wieder einfindet. Über die Zeit des Spießrutenlaufens sind wir ja wohl hinaus.«
»Dieser Baum ist ein Mensch, der sich nicht fügen kann. Überall, wo er hinkommt, stiftet er Aufruhr. Ich würde nicht so leicht darüber hinweggehen, Herr Oberst.«
Der Oberst erhob sich.
»Ja, ja, meinetwegen, ich will mir das überlegen. Erinnert mich in den nächsten Tagen nochmals daran. Dann werde ich bei seiner Hoheit Vortrag halten. Baum, den Namen habe ich erst kürzlich in anderem Zusammenhang gehört. Ach, richtig, hieß nicht auch der junge Leutnant, gegen den die Verhandlung schwebt, Baum?«
»Jawohl, Herr Oberst. Melde gehorsamst, Richard Baum, Premierleutnant Richard Baum ist ein Cousin des anderen.«
»Komisch, komisch, der Alte macht einen so soliden Eindruck, und seine Söhne scheinen die reinsten Rebellen zu sein.«
»Man sollte scharf gegen solche Elemente vorgehen, Herr Oberst, wenn ich mir eine Meinung erlauben darf.«
»Ja, ja, werde mir den Fall vornehmen. Wie kam Euer Deserteur eigentlich zum Militär? Er schien sich doch nicht viel aus dem bunten Rock zu machen, wenn er so bald wieder desertierte.«
Mit dieser Frage hatte Eberstein nicht gerechnet. Sie brachte ihn in Verlegenheit. Sollte er erwidern, daß er die Ursache war, die Michel Baum für ein paar Tage dazu bestimmte, Musketier beim Landgrafen von Hessen-Kassel zu spielen? Er hatte überhaupt nicht mit einem so eingehenden Interesse des Obersten gerechnet. Weshalb interessierte sich sein Vorgesetzter so sehr für den verdammten Pfeifer?
»Ihr habt mir meine Frage noch nicht beantwortet, Major. Wie kam der Mann zum Militär?«
»Nun, nun«, stotterte Eberstein, »Sie wissen, Seine Hoheit brauchte damals — brauchte damals Soldaten. Seine Hoheit — Seine Hoheit hatte einen Vertrag mit England. Nun, da war man nicht gar so zimperlich, jemanden den Rock anzuziehen.«
»Ach so, also zwangsrekrutiert. — Hm —, das mildert die Sache noch ab. Wollte vielleicht auch ein braver Tabakhändler werden wie sein Vater, was?«
Eberstein zauderte wieder. Er überlegte, ob er sagen sollte, was er über Michels Zivilberuf wußte. Wenn erden Oberst jedoch bei seiner Ansicht ließ oder sie gar bestätigte, dann mußte er gewärtig sein, daß sein Vorgesetzter sehr erstaunt sein würde, wenn er die Wahrheit erfuhr. Es fiel ihm sichtlich schwer, als er jetzt antwortete:
»Nein, Herr Oberst, er war Arzt.«
Der Oberst hielt in seiner Wanderung inne. Kerzengerade stand er vor Eberstein. Seine hellen, ehrlichen Augen starrten diesen ungläubig an.
»Sapperlot, sagtet Ihr Arzt?«
»Jawohl, Herr Oberst.«
»Ja, zum Teufel, hat man denn in Hessen auch Ärzte zwangsrekrutiert? — War er Regimentsmedikus?«
»Herr Oberst haben mich mißverstanden. Beim Militär war er einfacher Musketier. Ich meine, er war im Zivilberuf Arzt.«
Der Oberst hieb mit der Faust auf den Tisch.
»Unerhört!« Und Eberstein merkte, daß dieses »Unerhört« nicht etwa der Tatsache galt, daß Michel desertiert war. »Gleich morgen früh laßt Ihr mir den Mann vorführen. Das scheint mir ja eine sonderbare Angelegenheit zu sein. — Danke, Major von Eberstein.«
Als Rudolf draußen war, schlug er wütend mit der Faust auf den Degenknauf. Er sah ein, daß er die größte Dummheit seines Lebens gemacht hatte. Man maß heute in Hessen-Kassel nicht mehr nach den Maßstäben von vor zehn Jahren. Die Zeiten hatten sich geändert. Der Landgraf war ein friedlicher Mann, der sich um den Aufbau seiner Residenz kümmerte, der etwas für die Kultur tat, der nicht gerade liberal, aber doch großzügig gesinnt war. Plötzlich wußte Eberstein, daß er verspielt hatte. Wut und Rachedurst schlugen in das Gegenteil um. Er bekam plötzlich Angst.
Nach seiner Rückkehr damals, als ihn die Seeräubergräfin Marina an Land gesetzt hatte, hatte ihn der Landgraf in Gnaden wieder aufgenommen. Die Abenteuer, die er erlebt hatte, gaben ihm den Nimbus eines kühnen Draufgängers, den man gerne als tüchtigen Offizier in der Armee hatte. Das Delikt, um dessentwillen er damals zu den Söldnertruppen, die der hessische Landgraf an den englischen König verkauft hatte, abgestellt worden war, war vergeben. Wenn sich nun aber der Oberst plötzlich persönlich für Baum zu interessieren begann, so bestand die Gefahr, daß all das Vergangene wieder aufgewärmt wurde. Und wie er, Rudolf von Eberstein, den Pfeifer kannte, nahm dieser kein Blatt vor den Mund.
Eberstein wußte plötzlich, daß er das Spiel, das er ein Jahrzehnt lang spielte, verloren hatte.
Je näher er dem Hause kam, in dem er mit seinem Vater wohnte, um so zögernder wurde sein Schritt. Was würde wohl der Vater sagen? Zum zweitenmal in verhältnismäßig kurzer Zeit war es die Schuld des Sohnes gewesen, die alle Spekulationen des alten Gauners über den Haufen geworfen hatte.
Rudolf verspürte plötzlich den heftigen Wunsch, sich über das, was vorgefallen war, mit einem Freund auszusprechen. Aber des einzigen Freundes, den er je besessen hatte, hatte er sich selbst beraubt. Richard Baum saß ebenfalls im Gefängnis.
Er ging an seinem Haus vorbei. Er hatte nicht den Mut einzutreten. Später saß er in einem Restaurant und trank Wein. Der Alkohol half über solche Situationen immer noch am besten hinweg. Zumindest war er dazu angetan, Dinge, die sich zwangsläufig ereignen mußten, hinauszuschieben.
54
Der Pfeifer hielt erschöpft inne. Die Anstrengung, die ihm die Freiheit versprach, war vollbracht.
Noch einmal fuhren seine Finger prüfend über die eingefeilten Kerben. Seine Fäuste griffen in das Gitter und rüttelten daran. Es gab keinen Zweifel : ein kurzer, kräftiger Ruck genügte, um es herauszureißen. Er ließ sich auf die Pritsche nieder, um zu verschnaufen. Bevor er seinen Weg nach draußen antrat, mußte er frische Kräfte sammeln.
Er hatte noch nicht lange so gesessen, als sich die Guckklappe in der Tür öffnete und im Schein einer Kerze das grimmige Gesicht des Wachsergeanten sichtbar wurde.
»Sein Glück«, sagte die knurrige Stimme, »daß Er die Pfeiferei eingestellt hat.«
»Mein Glück sieht ganz anders aus.«
»Werde Er nicht frech, Halunke. Sei Er froh, daß wir Ihn nicht geknebelt haben.«
»Sei Er froh, daß Er es nicht versucht hat«, entgegnete Michel. »Es wäre Ihm wahrscheinlich schlecht bekommen, mir einen Knebel in den Mund zu stecken.«
»Er ist arrogant, als sei Er aus Preußen.«
»Er hat wohl noch keinen Preußen gesehen, wie?«
»Ach ...« Der Sergeant warf wütend die Klappe zu.
Michel streckte sich auf der Pritsche aus. Er hatte das Bedürfnis, seine Glieder zu entspannen.
Die verkrampften Armmuskeln brauchten Auflockerung. Der Puls mußte ruhiger werden; denn sein starkes Klopfen verursachte ein hämmerndes Geräusch im Schädel, das das Gehör trübte.
Im Liegen stopfte er sich eine Pfeife und rauchte mit Behagen. Als nach dem letzten Zug der Rest der Glut zu Asche verglomm, hallten die Glockenschläge von Sankt Martin herüber. Sie kündeten die zwölfte Stunde.
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