»Mucks Er sich nicht!« donnerte die Stimme des Sergeanten. »Wir haben Befehl, beim Fluchtversuch scharf zu schießen.«
»Schon gut«, sagte Michel.
Die Tür knallte ins Schloß, ein Schlüssel drehte sich herum.
Michel zuckte die Schultern, zog seine Pfeife hervor, stopfte sie und zündete sie an.
Er hätte etwas darum gegeben, zu sehen, was für ein dummes Gesicht der alte Eberstein machen würde, wenn er von dem eigenmächtigen Streich seines Sohnes erfuhr. Für Michel stand fest, daß der alte Graf von diesen Dingen hier nichts wußte.
Er war keinen Augenblick niedergeschlagen. Nicht umsonst hatte er sich mit Ojos Hilfe so gründlich vorbereitet.
Seine Blicke suchten das Gitter. Die Lichtluke war groß genug, um einen Menschen, der so schlank wie er war, hindurchzulassen.
Seine Hände tasteten das Gitter ab. Die Stäbe waren nicht besonders stark. Es würde eine Kleinigkeit sein, hier herauszukommen, wenn —, ja, wenn draußen kein Posten stand.
Dieser Gedanke schoß ihm blitzartig durch den Kopf. Sich dessen zu vergewissern, hatte er trotz allem Vorbedacht vergessen.
Dennoch ließ er den Mut nicht sinken. Drei Rauchbomben trug er bei sich und eine diamantenscharfe Feile. Das mußte genügen.
Er war nicht lange allein mit seinen Gedanken.
Bald öffnete sich eine Luke in der Tür, und das grinsende Gesicht Ebersteins erschien darin.
Michel wartete nicht, bis er angesprochen wurde, sondern meinte:
»Dieser Bilderrahmen paßt gut um Eure Visage.«
Ebersteins Gesicht veränderte sich augenblicklich. Wilder Haß löste den Ausdruck des Triumphes auf seinen Zügen ab.
»Bist du noch frech, du Hund, wenn du schon den Strick um deinen Hals fühlst?«
»Ich denke, du kennst das Reglement«, erwiderte Michel ungerührt. »Deserteure werden doch gemeinhin erschossen und nicht gehängt. Wozu also diese Drohung mit dem Strick?«
»Du — du — du Halunke!« Eberstein konnte sich vor Wut kaum beherrschen. Die Unerschütterlichkeit des anderen, nunmehr Wehrlosen, wie er vermeinte, traf ihn tief.
»Da fällt mir ein«, sagte Michel, »es wäre besser gewesen, ich hätte dich damals an die Piraten von Algier verkauft. Dann hättest du tausend neue Schimpfwörter hinzulernen können. Die Araber sind darin erfinderischer als du.«
Die Klappe knallte zu.
Aber schon nach ein paar Sekunden ging sie wieder auf.
Der Graf schien sich gefaßt zu haben. Er glaubte, noch einen Trumpf ausspielen zu können.
»Wenn es dir langweilig wird«, sagte er hämisch, »dann brauchst du nur an die Zellenwand zu klopfen. Nebenan sitzt dein Vetter. Er wird sich freuen, wenn ich ihm mitteile, daß wir dich hinter Schloß und Riegel haben. Er wird mir den Triumph gönnen. Er ist mein bester Freund.«
»Du Trottel«, sagte Michel nur. Er hätte jauchzen können vor Vergnügen. Er hätte es nicht für möglich gehalten, daß Eberstein so dumm sein würde, ihm zu verraten, in welcher Zelle Richard saß.
Er ließ sich auf den Rand der Pritsche nieder und rauchte gemütlich Pfeife um Pfeife. Bald hatte er herausgefunden, daß die lauten Schläge der Sankt Martinskirche bis in die Enge der Zelle drangen. So brauchte er um die genaue Bestimmung der Uhrzeit nicht verlegen zu sein. Und das war vielleicht von Wichtigkeit. — Kurz, nachdem es sieben Uhr geschlagen hatte, brachte ihm ein Soldat ewas zu essen.
Michel fragte:
»Ist das alles?«
»Ja«, grinste der Soldat.
»Doch hoffentlich nicht für die ganze Nacht?«
»Doch«, nickte der andere. »Du bist doch hier in keinem Hotel. Erst morgen früh um halb fünf bekommst du die nächste Scheibe Brot.«
»Das ist unerhört«, tobte Michel und tat, als sei er ernstlich böse, was den anderen offensichtlich zu freuen schien. Er lachte und schlug die Klappe zu.
Michel hatte, bevor er sich zu Eberstein begab, ausgiebig gegessen. Er war nicht hungrig. Er wollte lediglich wissen, ob er heute nochmals gestört würde oder nicht.
So konnte er sich denn der Arbeit widmen, für die er sich die Feile eingesteckt hatte.
Er machte sich ans Werk. Aber als er zwei Striche getan hatte, hielt er inné. Das Geräusch schien ihm doch zu stark. Er überlegte. Dann begann er, mit aller Lungenkraft zu pfeifen.
Es dauerte nicht lange, da öffnete sich die Klappe abermals und der bärbeißige Sergeant erschien.
»Hör Er auf mit dem Gejodel. Ein Gefangener hat nicht zu pfeifen.«
Michel saß auf seiner Pritsche und kümmerte sich nicht um ihn. Immer kräftiger flössen die dissonanzreichen Melodien von seinen Lippen.
»Aufhören!« schrie der Sergeant.
Michel blickte auf unrd lächelte ihn freundlich an, ohne das Pfeifen einzustellen.
Im Verlauf der nächsten halben Stunde erschien der Sergeant noch dreimal. Aber Michel dachte nicht daran, seine Lieblingsbeschäftigung aufzugeben. Und der Sergeant wußte offensichtlich nicht, was er tun sollte, um den Gefangenen stumm zu machen.
Bald schien man sich jedoch daran gewöhnt zu haben. Niemand kam mehr, um die Klappe zu öffnen.
Nun war es soweit. Michel setzte die Feile an und arbeitete im Schweiße seines Angesichts.
Manchmal mußte er aufhören, um sich zu verschnaufen. Die doppelte Anstrengung des Pfeifens und des Feilens belastete ihn stärker, als er geglaubt hatte. Dennoch, es mußte durchgestanden werden. Glücklicherweise waren die Gitterstäbe nicht alle in die Wand eingelassen. Wenn man zwei Quer- und zwei Längsverstrebungen durch hatte, so war das Fensterchen frei.
Draußen wurde es dunkel.
Eine tröstliche Feststellung hatte Michel gemacht: es gab keinen Posten, der vor den Zellenfestern entlang patroullierte. Das war viel.
Mit stolzgeschwellter Brust hatte sich Eberstein bei seinem Regimentskommandeur zum Rapport gemeldet. Hatte er diesen Michel Baum jetzt schon sicher hinter Gittern, so wollte er nicht nur seine Rachegelüste befriedigen, sondern seinem Vorgesetzten auch noch zeigen, was für ein toller Kerl er war. Die Eitelkeit stach ihn.
Der Oberst war ein älterer, vornehmer Herr, dessen hohe Stirn und kluge Augen große Intelligenz verrieten.
»Nun, lieber Eberstein, was bringt Ihr mir?«
»Melde gehorsamst, habe eine Deserteur gefangen und in Gewahrsam genommen, Herr Oberst.«
»Einen Deserteur? — Ich wußte gar nicht, daß so ein verdammter Bursche ausgerissen ist. In welcher Kompanie, in welchem Détachement?«
»Melde gehorsamst, Herr Oberst, er ist kein Deserteur im gewöhnlichen Sinne. Er ist vor nunmehr fast zehn Jahren dem landgräflichen Heer entflohen. Damals ging er straflos aus, da man seiner nicht habhaft werden konnte.«
»Vor zehn Jahren?« Der Oberst lachte. »Aber lieber Eberstein, das ist ja schon bald nicht mehr wahr. Und warum ist er ausgebüchst?«
»Wollte nicht gegen Washington kämpfen, Herr Oberst.«
»Hm, kann darüber nichts sagen. Vor zehn Jahren war ich noch nicht in hessischen Diensten.
Immerhin, was ist das für ein Mann?«
»Der Sohn des Tabakhändlers Baum.«
»Ah, der Alte, der diese tadellosen Sorten auf den Markt bringt? Meint Ihr den?«
»Jawohl, Herr Oberst, derselbe.«
»Habe immer geglaubt, er hätte nur einen Sohn gehabt.«
»Hat er auch, Herr Oberst.«
»Eigenartig, eigenartig, hat mir doch mal was davon erzählt, der alte Mann. Richtig, sollte ja irgendwo draußen in der Welt umgekommen sein. — Zum Teufel, Eberstein, war das nicht Euer Freund?«
»Nun, Freund ist zuviel gesagt. Ich war mit ihm zusammen eine Weile auf See. Haben uns zufällig draußen wieder getroffen. Er war Seeräuber.«
Der alte Herr schüttelte den Kopf. Er kannte die Einzelheiten nicht. Er erinnerte sich nur schwach an die Erzählung des alten Andreas Baum.
»Darf ich mir einen Vorschlag gestatten, Herr Oberst?«
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